Dunkle Vergangenheit wird wieder lebendig
Seit den Anfängen des Asphalt-Festivals gehören die Themen-Reisen des Theater-Kollektivs Pièrre.Vers (bis 2018 per.Vers) durch den öffentlichen Stadtraum zu den beliebtesten Programmpunkten. Meist sind sie unterhaltsam und amüsant, aber stets haben sie einen kommunalpolitischen Hintergrund. Tout Düsseldorf spricht heute noch von der Ode an das Büdchen, mit der das Theaterkollektiv im Jahre 2014 die Funktion des Kiosks als Kommunikationszentrum und interkulturelle Begegnungsstätte erkundete; im vergangenen Jahr war man mit Garten minus Zäuneauf charmante Weise in ökologischer Mission unterwegs (siehe hier). Immer gab es etwas zu entdecken, immer gab es einen milde kritischen Blick auf Missstände unserer Zeit - und immer gab es etwas zum Schmunzeln. Diesmal aber steigen wir am Ende unserer Tour ziemlich erschüttert aus dem Bus. Denn wir wandern und fahren entlang der Stätten der Reichspogromnacht am 9. November 1938, in der in Düsseldorf wie überall in Deutschland die Synagoge brannte, die Wohnungen der Juden zerstört wurden und jüdische Mitbürger brutal misshandelt wurden.
Bei der Vorbereitung der Aufführung hat das Theaterkollektiv Pièrre.Vers mit der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf zusammengearbeitet, die ein wichtiges Forschungszentrum zur nationalsozialistischen Vergangenheit ist. Ihr umfangreiches Archiv verfügt über eine große Zahl an Zeitzeugenberichten, die zur wichtigsten Grundlage für die „performative Zeitreise“ werden. Am Ausgangspunkt drückt uns der Leiter der Theatergruppe Christof Seeger-Zurmühlen, in Personalunion Regisseur der Aufführung, Schauspieler und einer der beiden Leiter des Asphalt-Festivals, einen Stadtplan in die Hand: Düsseldorf heute und Düsseldorf 1938. Ein Foto des modernen, weltoffenen Max Brown Hotels Midtown steht neben alten, von der Mahn- und Gedenkstätte ausgegrabenen Bildern des KAREMA, des Kaffee-Restaurant-Marcus, das sich im Jahre 1938 in diesem zwischenzeitlich vollständig umgestalteten Gebäude befand. Das KAREMA war 1938 die letzte Gaststätte in Düsseldorf, die noch offensiv jüdische Mitbürger willkommen hieß. Bei einem Minze-Tee im Bistro des Hotels lauschen wir den von den fünf Schauspielern gesprochenen und gespielten Zeitzeugen-Berichten, während Julia Dillmann am Klavier Melodien der Zeit spielt.
„Als wir die Nachricht vom Tod des Diplomaten Ernst von Rath erhielten, wussten wir, dass es für uns ernst wurde“, heißt es in einem dieser Berichte. Tatsächlich diente Herschel Grynszpans Attentat auf den deutschen Botschaftssekretär in Paris, das vermutlich keine politischen, sondern sexuelle Hintergründe hatte, den Nationalsozialisten als Vorwand für die Pogromnacht zwei Tage später. Durch die Fenster des Bistros beobachten wir Menschen, die die „Rheinische Post“ lesen oder gebannt Nachrichten auf ihrem Handy verfolgen, die scheinbar von dem Attentat berichten. So funktioniert die Inszenierung: Immer wieder wird die historische Vergangenheit ins Heute geholt. Auf unserer Wanderung durch die Düsseldorfer Straßen berichtet eine Frau, wie sie ihrer Tochter ein Schlaflied singen musste, während sie gleichzeitig voller Aufregung einen vor dem Terror geflüchteten jüdischen Freund zu verstecken sucht. Wie zufällig geht in diesem Moment eine Gruppe von Kindern am reisenden Zuschauer-Trupp vorbei und singt ein Kinderlied. An der nächsten Straßenecke pöbeln ein paar junge Männer, die wir der Neonazi-Szene zuordnen könnten. Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl: Wehret den Anfängen, denn in unseren Tagen drohen wieder rechte Gruppierungen die stärkste Partei bei der einen oder anderen Landtagswahl zu werden.
Dagegen wehrt sich unter anderem die JuMu Deutschland gGmbH, in der sich jüdische und muslimische Sozialarbeiter gemeinsam für den interreligiösen Dialog und das interkulturelle Verständnis einsetzen. Wir besuchen das Büro der Gesellschaft in der Harkortstraße, in der uns ein Sozialarbeiter über die Aufgaben des Zentrums informiert. Inzwischen haben wir Dora Diskin kennengelernt, eine Jüdin, die in der Harkortstraße ihre Kindheit verbracht hat, bis dass sie mit ihren Eltern fliehen musste. Anna Beetz wird uns in der Rolle der Dora Diskin auf der restlichen Tour begleiten. Im Jahre 1985 lud die Stadt Düsseldorf alle ehemaligen Juden der Stadt zu einem Besuch ein. Dora Diskin folgte der Einladung und ging zu ihrem alten Wohnhaus, das längst zu einem Büro- und Gewerbehaus geworden war. Sie fand zunächst keinen Einlass, bis dass sie einen zunächst abweisenden Mann von ihrer und des Hauses Geschichte überzeugen konnte. Wir stehen im Hof - und da ist er: Eberhard Burhans, der der Rückkehrerin 1985 die Wiederbegegnung mit ihrer Kindheit ermöglichte. Das Theater-Kollektiv Pièrre.Vers hat ihn ausfindig gemacht.
Das Viertel, durch das wir gehen, liegt unweit der Schickimicki-Meile Königsallee, doch war es lange Zeit ein prekäres Viertel. Einige der Straßen waren noch vor wenigen Jahren wegen Drogenhandels und Straßenprostitution verrufen. Um eine Top-Lage handelt es sich nach wie vor nicht, doch hat sich die Situation ein wenig verbessert. In der Grupellostraße überraschen zwei wunderschön renovierte Altbauten. Die Schauspieler berichten vom Schicksal seiner einstigen jüdischen Bewohner und den Überfällen am 9. November 2018. Wie zufällig tragen ein paar Leute Möbel aus dem Haus, obwohl, wie wir inzwischen durch ein allen Mitreisenden ausgehändigtes Geheimes Blitz-Fernschreiben der Gestapo wissen, zwar die Zerstörung jüdischer Wohnungen erlaubt und gewollt, die Plünderung aber verboten ist. Wir betreten das Haus und besuchen ein sympathisches Ehepaar, das von seinem eigenen Leben und der Entwicklung des Viertels berichtet. Die originell eingerichtete Wohnung strahlt Wärme und Gemütlichkeit aus, doch dann folgen wieder erschütternde Zeitzeugenberichte: Ein kleines Mädchen erzählt, wie die marodierenden Horden ihre Vögel töteten und an die Wände der Wohnungen klatschten, so dass das Blut an den Wänden hinunterlief. Nie wieder wurde sie die grausamen Bilder los.
Solche Geschichten hören wir wieder und wieder. Die Marodeure suchten sich offensichtlich für ihre Zerstörungen aus, woran feinsinnige Menschen besonders hängen: Haustiere, Kunst - und immer wieder Musikinstrumente. Erschütternd ist die Geschichte des Juden, der sich verzweifelt an seinen Flügel klammert, den die Nazi-Horden aus dem Fenster werfen. Er fällt mit dem Klavier, doch er fällt schneller - und wird von seinem geliebten Musikinstrument erschlagen.
Mittlerweile befinden wir uns im Bus. Ganz langsam rollt er die Hüttenstraße entlang. Vor vielen Eingängen stehen Schauspieler, die von den grausamen Schicksalen der früheren jüdischen Bewohner erzählen. Die Geschichten wiederholen sich, doch immer steht ein Mensch dahinter, ein unverwechselbares Individuum, dem die Schauspielerinnen und Schauspieler Stimme und Gesicht geben. Es ist erdrückend. Ganz still ist es im Bus. Der spuckt uns an der viel befahrenen Kasernenstraße nahe einer großen Verkehrskreuzung aus, gleich gegenüber eines recht gesichtslosen modernen Bürohauses. Hier entlang ging ich einige Jahre zu Fuß zur Arbeit. Ich wusste damals genauso wenig wie die meisten Mitreisenden heute, dass an dieser Stelle die alte jüdische Synagoge gestanden hatte, die in der Reichspogromnacht abgefackelt wurde. Eine dunkelgraue Steintafel mit verschmutzten Lettern erinnert heute daran. Reliefartig ist daneben eine Menora in den Bürgersteig gemeißelt. Mitbürger haben nach jüdischer Friedhofs-Tradition ein paar Steine auf der Gedenktafel abgelegt. Doch die meisten gehen achtlos vorbei, so wie ich es dreieinhalb Jahre lang getan habe.
Bitterkeit erfasste Dora Diskin, als sie im Jahre 1985 an diese von ihr als lieblos empfundene Gedenkstätte geführt wurde. Sie reiste unverzüglich heim und schrieb einen empörten Brief an die Stadt. Aber das zutiefst beeindruckende Projekt des Theaterkollektivs Pièrre.Vers entreißt auch die Synagoge dem drohenden Vergessen. Einer der Zeitzeugen hatte beschrieben, wie lange sich 1938 wesentliche Teile des Gotteshauses gegen die Flammen wehrten. Mögen seine Worte noch lange der Wahrheit entsprechen: „Es ist, als würde sich die Synagoge weigern zu sterben.“