Die Folgen der kosmischen Katastrophe
„In irgendeinem Regal … muss es ein Buch geben, das Schlüssel und vollkommenes Kompendium aller übrigen ist: Ein Bibliothekar hat es überflogen und ist einem Gott gleich“, heißt es in dem von Christian Freund poetisch vorgetragenen Text Die Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borges. Es ist nur einer von neunzehn Texten, die das Schauspiel Dortmund enumerativ aufführt und die in Thorleifur Örn Arnarssons und Mikael Torfasons merkwürdiger, sogartiger Inszenierung Im Irrgarten des Wissens zur Sprache kommen. Auch diese Inszenierung ist ein wundersames Kompendium. Sie ist mehr Irrgarten als Wissen. Alles kommt vor, aber scheinbar ist nichts miteinander verbunden. Aber nur scheinbar: Gott ist immer mal wieder dabei, und die Schöpfungsgeschichte und ihre Folgen sind es durchgängig.
Mit dem Schöpfungsmythos fängt der gut fünfstündige, sich in drei Teile gliedernde Abend an – gleich sechs- oder siebenmal. Gott und seine Gehilfen verbergen sich neben und hinter der Bühne und verfügen über ein ganzes Arsenal an Nebelmaschinen. Die Ursuppe kocht, aber die ersten Schöpfungen sind schon zu sehen: bewegungslose Menschen und eine Art Schachfiguren, die sich auf der permanent rotierenden Drehbühne drehen. Bald tritt ein Bläser hinzu, dann weitere Musiker. Atmosphärisch schlägt das in den Bann. Aus dem Off hören wir, wie die Welt erschaffen wurde – gemäß der Glaubensrichtungen der Bantus und der Finnen, der Navajos und der Grönländer, der Christen und der Einwohner von Borneo. Die Schöpfungsmythen ähneln einander, und sie unterscheiden sich doch: Hier stürzt die Erde plötzlich „von oben herab, Erde, Steine Felsen, hoch vom Himmel hernieder“; dort legt ein aus den Worten einer einsamen Frau entstandener Vogel zwei Eier, aus deren Schalen Himmel und Erde entstehen - und die Sonne aus dem Dotter und Wolken, Mond und Sterne aus dem Eiweiß. Nicht überall geht es so bezaubernd zu wie in afrikanischen Stammes-Mythen, wo das Chamäleon und die Echse sich ein Wettrennen um die Frage der Wiedergeburt, des ewigen Lebens oder der Sterblichkeit des Menschen liefern. Und nicht überall gibt es einen männlichen und einen weiblichen Gott: Fragen Sie mal den Papst, der Frauen nicht einmal als Hirtinnen seiner Herde akzeptiert.
Viele Mythen, viele Weltgeburten - viel Kakophonie. Die anfangs so schöne Atmosphäre mit Blasmusik und wallendem Nebel wird zum Durcheinander von Sprache und Sound. Es ist, als habe Gott das Chaos geschaffen; vielleicht sind Sprachengewirr und Kakophonie ja die Folge von Babel. Doch auf wundersame Weise geht nun das Chaos in Ordnung über: in eine Choreographie weiß gekleideter Menschen, die sich zunächst vergeblich am Versuch abarbeiten, eine vom Himmel schwebende Orgel zu erreichen. Da hilft nicht die Anstrengung der proletarischen Masse, da hilft nicht die Kreativität des Individualisten: Das Himmelreich bleibt erstmal unerreíchbar – bis dass schließlich ein schwarzer Zauberer doch noch die Orgel erklettert. Eitel ist er, herrisch kann er sein, doch dann erklingt ganz zart: „Freude, schöner Götterfunken…“
Ist damit der Ton des Abends gesetzt? Wie man’s nimmt: Es gibt verschiedene Töne. Ernst und Poesie, Slapstick und Surrealismus, Banales und Berührendes, Politik und Privates. Es gibt Längen (die stumme choreografierte Auftaktszene gerät bald zu einer), und es gibt grandiose Höhepunkte. Die Zuschauer schätzen den Running Gag des Abends: „Mein Name ist Kevin Wilke“, kommt der Grazer Schauspielschüler Kevin Wilke immer mal wieder auf die Bühne, stolpert scheinbar unkonzentriert ein paar private und berufliche Banalitäten zusammen und stimmt in der BVB-Metropole das Lied der „Clubberer“ vom 1. FC Nürnberg an. Je später der Abend, desto skurriler und surrealer werden seine Reden.
Mit Wilke beginnt der zweite Teil des Abends: Nahezu das gesamte Ensemble trägt kleine Texte vor: eigens für die Aufführung geschriebene oder auch literarische wie Borges‘ „Bibliothek von Babel“. Und hochpolitische: Bérénice Brause erinnert an zwei in unterschiedlichen geschichtlichen Perioden zu Opfern rechtsradikalen Terrors gewordene Dortmunder. „Manche fürchten sich vorm Tod…“, singt Wilke sein Clubberer-Lied – doch da hält selbst er inne und merkt, dass das Fußballlied unangebracht ist, wenn von der Ermordung des Kioskbesitzzers Mehmet Kuba?ik durch den NSU und die Verfolgung des jüdischen Arztes Rolf Bischofswerder im Nationalsozialismus die Rede ist. Alexandra Sinelnikova, die Schauspielerin mit russischem Migrationshintergrund, spricht mit Danke, Deutschland einen abenteuerlich zwischen Ernst und Ironie schwankenden Text, eine großartige Satire des Dortmunder Dramaturgen Matthias Seier. Marlena Keil gibt eine geradezu faschistoide Sicherheitsbeauftragte, eine gnadenlose Exekutorin bürokratischer Vorschriften, die zum Schrecken all ihrer Kollegen wird, und Uwe Schmieder zählt in einem skurrilen Auftritt alle wichtigen Geschöpfe der Menschheit auf, von Thunberg bis Kraftwerk, von Goethe bis ABBA: Sportler, Entdecker, Wirtschaftsmagnaten, Künstler, Religionsführer, Revoluzzer.
Nichts scheint miteinander verbunden? Es ist das weiterentwickelte Resultat der Schöpfung, das uns hier vorgeführt wird: Stars und Sternchen, Sommer und Winter, Leben und Tod, Zufälligkeiten und Belangloses, große Entdeckungen und verbrecherische Verirrungen. Es sind ein paar wahllose Seiten aus dem Buch, das Kompendium aller übrigen ist. In diesem Buch gibt es sogar leere Seiten, die voller Spannung sind: Uwe Schmieder performt 4‘33‘ nach John Cage - vier Minuten 33 Sekunden absolute Stille. Das klappt hervorragend – so still ist es im Dortmunder Schauspielhaus noch nie gewesen. Wir sollen schätzen, wann die Zeit vorüber ist: Auch um die Bedeutung und das Existenzielle von Zeit geht es. Auf die Bühne werden Merksätze projiziert, etwa die Aussage von Tom Hodgkinson zum Zeitempfinden kleiner Kinder: Für sie, so sagt er „the future and the past are meaningless abstract concepts.“ – Oder von Ludwig Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ – Der Lieblingssatz des Rezensenten an diesem Abend stammt von Slavoj Zizek: „What we call creation is a kind of cosmic imbalance or catastrophe“ – eine weniger romantische, aber realistischere Einschätzung der Schöpfung als die mit dem Rennen zwischen Echse und Chamäleon. So bekommen auch Kevin Wilkes Slapstick-Nummern plötzlich ihren Sinn: Jenseits von Clubberer-Song und „Nummer mit der Erdbeere“ geraten seine Auftritte nämlich immer mehr in die Nähe einer Identitätsverwirrung. Und was ist unsere Identität anderes als eine Laune der Natur in Folge einer kosmischen Katastrophe?
Daniel Angermeyers großartige, phantasievolle Bühne hat inzwischen Jahrmarkt-Charakter. Die lange Pause ist eigentlich keine Pause. Wir können hinausgehen und uns im ganzen Haus Ausstellungen und Installationen von Angermeyer und Marlena Keil anschauen – zum Sterben von Angermeyers Mutter, zur Bibliothek des Wissens, zu den Erinnerungsorten von Rolf Bischofswerder und Mehmet Kuba?ik u. v. a. m.. Wer sitzen bleibt, wird Ohrenzeuge eines großartigen Rockkonzerts. Auch im letzten Teil der Aufführung gibt es immer wieder tolle Songs, von dem hochmusikalischen Dortmunder Ensemble fast immer live gesungen und bezugnehmend auf die nun oft sehr persönlichen Erzählungen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Der Dortmunder Sprechchor rezitiert in voller Länge die Trauerrede auf ein verstorbenes Mitglied. Als die Rede endet, fliegt Merle Wasmuth als weißer Engel gen Himmel und singt melodisch, glockenhell und voller Schmelz Edith Piafs „Je ne regrette rien“.
Was für eine Hommage an Lilli Fehr-Rutter! So möchte man dereinst begraben werden, und nicht wie der Führer, nicht wie Magda Goebbels, deren Abschiedsbrief vor ihrem erweiterten Suizid im Führerbunker nun zitiert wird: Eine verblendete Frau schreibt in hohem Ton einen Brief voller nationalistischem Gedankengut, aber auch von einem tiefen Glauben an die Idee erfüllt. Der Versuch einer Neuschöpfung des arischen Menschen ging schief, aber auch solche Verirrungen sind Folgen der göttlichen Schöpfung – oder der kosmischen Katastrophe. Die Inszenierung fährt spitze satirische Stacheln aus, wenn Frieder Langenberger Magda Goebbels das wunderschön traurige „Malade“ von Lara Fabian widmet.
Spätestens in der Pause fällt dem Zuschauer auf, dass es auf der Bühne eine zunächst völlig unauffällige stumme Figur gibt. Frank Genser steht da, in ein Clowns-Kostüm gezwängt. Er wringt die Hände und murmelt unhörbar vor sich hin. Wie lange er da schon steht, wissen wir nicht – wir haben ihn nicht kommen sehen. Gerüchteweise dauert sein Auftritt vier Stunden - wie er, ohne sich zu bewegen, in dieser Zeit von der rechten Bühnenseite in die Mitte geraten ist, wissen wir auch nicht. Der Rezensent schwört: Genser hat sich nicht von der Stelle gerührt. Genser ist ein Rätsel, ein Phänomen, eine Irritation. Was seine Figur bedeutet? Keine Ahnung. Das Unwägbare der Schöpfung? Ein Verlierer der Schöpfung? Der immer Überlebende, der in allen Wendungen der Geschichte sich selbst treu bleibt? Der, der immer strebend sich bemüht, aber nie erlöst wird? Wir wissen es nicht. Am Ende wird er sich die weiße Schminke vom Gesicht wischen und ans Mikrofon treten. Er versucht zu sprechen, winkt ab und verlässt die Bühne. Genser erhielt in dieser Spielzeit den Kritikerpreis des Dortmunder Schauspiels – nicht nur, aber ganz besonders für diese Rolle. Von dieser Inszenierung werde man noch in zehn Jahren sprechen, formulierte der Vorsitzende der „Dortmunder für ihr Schauspiel“ Sebastian Franssen. Von der Inszenierung? Wahrscheinlich. Von Genser ohne jeden Zweifel.