Eine Unterrichtsstunde in Farsi
Wir sind im Herzstück des „Asphalt-Festivals“, dem Hof des denkmalgeschützten „Weltkunstzimmers“, einer ehemaligen Brotfabrik, die in ein alternatives Kunst- und Kulturzentrum von ganz besonderem Charme verwandelt wurde. Im äußersten Hinterhof, dreimal um die Ecke, ist der Eingang zur Glashalle, in der heute das Theaterexperiment Nassim stattfinden wird.
Als die schwere Plane (eine Tür gibt es nicht) zurückgeschlagen wird, zeigt sich, dass auch heute, wie an jedem Abend dieses phantasievollen und experimentierfreudigen Sommerfestivals der Künste, jeder der nicht eben komfortablen Stühle gebraucht wird. Doch die Unbequemlichkeit stört die begeisterte Fangemeinde nicht, die meist abends noch lange nach Vorstellungsschluss bei Live-Musik im improvisierten Biergarten zusammenhockt.
Christoph Seeger-Zurmühlen, der mit Bojan Vuletic das Festival leitet, tritt ans Mikrofon und erklärt, worum es geht: Die Schauspielerin Hanna Werth, vielen als Ensemblemitglied des Düsseldorfer Schauspielhauses wohl bekannt, wird völlig ahnungslos auf die Bühne treten und erst hier und jetzt von dem iranischen Theatermann Nassim Soleimanpour Text und Anweisung zu einer spontanen Theaterperformance erhalten. Wir werden der Entstehung und Entwicklung eines Bühnen-Events beiwohnen.
Eine riesige Projektionsfläche bildet die Rückwand der Bühne, auf einem Tisch steht eine große Pappschachtel, sie birgt das Geheimnis der Aufführung, angeblich 456 Seiten in Farsi, Nassims Muttersprache. Hanna Werth tritt auf, ganz in Schwarz, gesteht auf Nachfrage, ein wenig nervös zu sein - und in der Tat muss es schwierig gewesen sein, eine Schauspielerin zu finden, die diesen Part wagte. Werth wirkt locker und interessiert und nimmt gut gelaunt Kontakt mit dem Publikum auf.
Dann greift sie nach dem ersten Blatt aus der Kiste und liest amüsiert den Text, der in großen Lettern auch auf der Leinwand erscheint, sodass das Publikum mitlesen kann. Er enthält Spielanweisungen und den Hinweis, dass sie ab sofort das kursiv Gedruckte nicht mehr laut zu lesen habe, da das nur die Regieanweisungen seien. Da die Blätter gut sichtbar von einer Männerhand ins Bild geschoben werden und aktuelle Ergänzungen und Anweisungen mit dem Filzstift live eingefügt werden, wird klar, dass Nassim irgendwo auf der Hinterbühne sein muss. Nach den Präliminarien geht es zunächst darum, einige Wörter und Kuriositäten in der Sprache des anderen zu lernen. Das Publikum soll mitlernen, Wörter vorschlagen, auf Farsi nachsprechen und ganze Sätze repetieren, was nicht immer gelingt. Bei Fehlern gibt’s eine kleine Cherry-Tomate „zur Strafe“. Kurzfristig verschwindet Werth hinter der Bühne, taucht nur noch im Video auf und erscheint dann mit Nassim zusammen wieder auf der Bühne. Der gibt weiterhin seine Anweisungen nur schriftlich, lenkt aber die Lernstunde mehr und mehr auf das Thema seiner Heimat, in der er als Theatermann nicht arbeiten darf. Bilder seiner Heimatstadt erscheinen auf der Leinwand und dann blendet er dazu ein Bilderbuch mit zarten Aquarellen und einfachen Sätzen ein, die Hanna Werth erstaunlich fehlerfrei und liebevoll auf Farsi vorliest.
Nassim macht das Heimweh des Fremden in der Fremde zum Thema und bricht plötzlich sein Schweigen, greift zum Handy und ruft seine Mutter im Iran an. Er spricht Farsi mit ihr und übersetzt es für uns. Das Publikum zeigt sich gerührt und applaudiert heftig.
Dem schließe ich mich nicht an. Ein Bilderbuch und einige witzige Sprachwendungen auf Farsi sind mir zu dürftig als Inhalt zum Thema Heimat eines eben dort verfemten Künstlers. Nassim Soleimanpour lebt im politischen Exil, da sollte es intellektuell und emotional andere Gestaltungsebenen geben als oberflächliche Sehnsucht nach Maman.
Hanna Werth jedoch spielt bravourös mit der formalen Herausforderung und macht aus dem bescheidenen Text einen temperamentvollen, überzeugenden Auftritt. Ihr gebührt der Applaus.