Mit Danton nach Ouagadougou
Mit Vorbildern ist das so eine Sache. Und mit Weisen auch. Gibt es so etwas noch? Jedes Vorbild und jeder Weise hat auch seine dunkle Seite. An Vorbilder oder Weise glaubte der Rezensent nicht, als er im Jahre 2011 mit zwei Freunden und einem Reiseleiter zu einer Studienreise nach Burkina Faso aufbrach. Doch er traf auf dem platten Land einen Mann, auf den das Attribut „weise“ so sehr zu passen schien wie noch auf niemanden zuvor. Titinga Frédéric Pacéré ist ein burkinabeischer Schriftsteller und Rechtswissenschaftler, der in Westafrika und in Frankreich studierte und dann 55 Kilometer von der burkinabeischen Hauptstadt Ouagadougou in the middle of nowhere das Musée de Manega gründete, das sich in unterschiedlichster Form mit der Kultur und Geschichte Burkina Fasos und seiner Bevölkerung befasst. Manchmal gewinnt man den Eindruck, Pacéré tue dies aus eher naivem denn wissenschaftlichem Blickwinkel, aber er überzeugt mit einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft des harmonischen Zusammenlebens zwischen den Völkern der Welt und den Stammeskulturen des Landes. Seinem Charisma kann man sich nicht entziehen. Dabei stellt Pacéré seine eigene Person niemals in den Vordergrund. Ein wahrer, weiser Mann, von einer Mission erfüllt, der er sich selbst und sein Leben unterordnet.
Dass er auch dem damaligen Diktator Blaise Compaoré ein Denkmal gesetzt hat, sei ihm verziehen, zumal er dessen angebliche Bemühungen für Frieden und Armutsbekämpfung in Kooperation mit dem ATD (Agir Tous pour la Dignité) Quart Monde in den Vordergrund rückt. Von Blaise Compaoré werden wir manch hässliche Geschichte hören anlässlich des Gastspiels des Schauspielhauses Graz beim africologne Festival in Köln. Bis dahin hat die Inszenierung von Jan-Christoph Gockel nicht nur an Fahrt gewonnen, sondern vor allem an Stringenz. Die Schauspieler konzentrieren sich endlich auf die Geschichte und Vorgeschichte einer Revolution. Das, was das Grazer Team in der ersten Stunde vorführt, wäre dem bescheidenen Titinga Frédéric Pacéré mutmaßlich niemals unterlaufen. Lange Zeit verzettelt sich Gockels Truppe in selbstreferentiellen Befindlichkeiten, stellt eigene Ratlosigkeit und individuelle kulturelle Anpassungsschwierigkeiten aus. Natürlich ist das gewollt: Drastisch führt man die cultural gap zwischen dem saturierten Westeuropa und dem aufstrebenden Westafrika vor - und die möglicherweise gar nicht so große gap zwischen dem Verhalten der Kolonialherren Anfang des 20. Jahrhunderts und der ach so vorurteilsfreien Europäer heute.
Die Inszenierung ist eine manchmal schwer zu durchschauende Mixtur aus Fiktion und Dokumentartheater. Wahr aber ist: Das Schauspielhaus Graz hat seinem Team eine Reise nach Burkina Faso genehmigt. Wie weit man ein künstlerisches Konzept für diese Reise hatte, bleibt im clair obscur. Tatsache ist: Jan-Christoph Gockel hat im Jahre 2017 mit einer Collage aus Georg Büchners Dantons Tod und Heiner Müllers Der Auftrag - also zwei Revolutionsstücken über gescheiterte oder zumindest vorübergehend sehr fragwürdige Folgen zeitigende Aufstände - den Nestroy-Preis gewonnen. Fake ist, dass das Preisgeld zur Finanzierung der Reise nach Westafrika diente - der Nestroy-Preis ist nämlich undotiert. Tatsache wiederum ist, dass Jan-Christoph Gockel im Rahmen einer früheren Theaterreise nach Burkina Faso mitten in die (weitgehend friedlich verlaufene) Revolution des Jahres 2014 geraten war, in deren Verlauf der Diktator Blaise Compaoré abgesetzt und ein Regime eingesetzt wurde, dass sich bis heute um eine demokratische Regierungsform bemüht. Nun fährt Gockel also erneut nach Ouagadougou: mit einem Danton im Gepäck oder zumindest der Idee, die Parallelitäten zwischen der Französischen Revolution von 1789 und der burkinabeischen Revolution von 2014 aufzuspüren. Der Grazer Schauspieler Komi Togbonou, eine person of colour mit togolesischen Wurzeln und deutscher Staatsangehörigkeit aus „fucking Remscheid“, ironisiert dieses Vorhaben und trifft den Nagel auf den Kopf: Die „Idee, ein weißes Ensemble zu uns zu holen“ sei so etwas wie „reverse colonialisation“. Und natürlich spüren auch die Reisenden schnell, dass es zumindest eine schräge Idee ist, die Werte der europäischen Aufklärung ungefiltert in eines der ärmsten Länder der Welt zu exportieren, das sich gerade erst auf dem Weg in eine halbwegs stabile Demokratie befindet (wie stabil sie ist, wird im zweiten, interessanteren Teil der Aufführung hinterfragt). Am Ende werden sie mit einer ganz anderen Thematik konfrontiert, die sie nun heimbringen und in Europa präsentieren.
Filmisch holen sie Bilder aus der Revolution des Jahres 2014 auf die Bühne und gehen der Geschichte dieser Revolution auf den Grund. Diese beginnt mit einem Staatspräsidenten, der noch heute ein Nationalheld des westafrikanischen Landes ist: mit Thomas Sankara. Auch der Sozialist kam durch einen Staatsstreich an die Macht; er regierte von 1983 bis zu seiner Ermordung im Jahre 1987. Er hatte den Ruf eines Kämpfers gegen die Korruption und verbündete sich zu diesem Zweck in jungen Jahren mit Blaise Compaoré, mit dem er den „Zusammenschluss kommunistischer Offiziere“ gründete, war einer der Ideengeber und Treiber der Gründung der Westafrikanischen Union und setzte sich für die Rechte der Frauen ein. Mancher westlichen Regierung war er suspekt, weil er die Rückzahlung der Schulden der Dritten Welt an die Industrieländer ablehnte; eine Verhaftung im Jahre 1983 kurz vor seinem erfolgreichen Putsch wird auch der Einflussnahme Frankreichs zugeschrieben. Am 15. Oktober 1987 wurde Sankara im Rahmen eines Militärputsches, der seinen ehemaligen Freund Compaoré an die Macht brachte, ermordet. Gockels Inszenierung insinuiert, dass Compaoré unmittelbar in die Ermordung involviert war. Erwiesen ist dies nicht; der Verdächtigen sind viele. Unter anderem nennt die Inszenierung auch Muammar al-Gaddafi, der das Land unterstützt hatte, zu dem Sankara aber kritisch eingestellt war.
Den politischen Wahrheitsgehalt der Inszenierung objektiv zu beurteilen, fällt aus der Distanz schwer, selbst wenn man wie der Rezensent das Land - noch zu Compaorés Zeiten - selbst bereist hat. Manchmal scheint dem skeptischen Beobachter der zweite Teil der Inszenierung reichlich nah an einer unkritischen Hommage an Thomas Sankara zu sein. Wie auch anders: Das Team hat vor Ort recherchiert, und vor Ort ist Sankara ein Idol. Die Mittel, die Gockel und sein Team angewendet haben, um die Sankara-Compaoré-Geschichte zu erzählen, sind ungeheuer vielseitig, phantasievoll, spannend und unterhaltsam. An Sankaras Todestag hat das Team seine Familie besucht. Zeitzeugen wurden interviewt; die Interviews wurden im Film festgehalten. Mit Amsa Sankara wird ein burkinabeischer Aktivist der Gruppe Balai Citoyen interviewt, der sich als - allerdings sehr entfernter - Verwandter des ehemaligen Staatspräsidenten und Volkshelden entpuppt. Sankara selbst tritt gleich in mehrfacher Gestalt auf: Es gibt alte Fotos und Filmbilder von ihm, aber auch eine wunderschöne Marionette. Berührend ist es zu sehen, wie Menschen aus der burkinabeischen Bevölkerung mit dieser Puppe sprechen, fast gläubig um Hilfe bitten, wo auch immer der Mann, der der Puppe Modell gestanden hat, sich im Moment befinden möge. Solche Bilder bringen uns auch den Menschen des Landes nahe: Nicht von ungefähr heißt es im Anschluss an diese Szene, dass Burkina Faso zwar nach den Statistiken der UNO zu den ärmsten der armen Länder zähle, aber in diesen Statistiken nie das menschliche Potential mitzähle. Das war es, was dem Rezensenten bei Titinga Frédéric Pacéré so imponiert hatte.
Die - inszenierten - Konflikte zwischen den Schauspielern, radikal und konsequent politisch inkorrekt, brechen die historische Ebene dieses zweiten Teils des Abends; teilweise wird sehr burlesk, aber der afrikanischen Realität angemessen gespielt. Auch die Eingriffe Dantons, gespielt von Florian Köhler meist mit einer von Michael Pietsch ebenso wunderbar gebauten Puppe, sind Brüche, die die Aufmerksamkeit des Publikums gleich in mehrfacher Hinsicht befördern: Vordergründig wirken sie manchmal witzig, de facto aber vertritt die Figur des Danton die Werte des französischen Neokolonialismus. So ist dieser zweite Teil des Abends eine hochinteressante, aber auch unterhaltsame, stets zur Reflexion anregende Geschichtsstunde. Angesichts der - wie das Schauspieler-Team vor Ort bemerkt hat, nicht immer aufgehenden - Parallelitäten zur Französischen Revolution stellt man sich sogar die Frage, ob Revolutionen eigentlich zwangsläufig mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen müssen. Erwähnenswert ist, wie großartig die Überblendung von Film und Live Act in dieser Inszenierung funktioniert - und wie authentisch das einfache Bühnenbild die Realität in Burkina Faso abbildet. In der Erinnerung ist man daher geneigt, den etwas ärgerlichen selbstreferentiellen, manchmal auch klamaukig wirkenden ersten Teil des Abends zu verdrängen und sich ausschließlich dem gelungenen zweiten Teil zu widmen. Der großherzige Titinga Frédéric Pacéré hätte das sowieso getan.