Der Tyrann mit dem Kinder-Degen
Entstellt ist dieser Richard nicht. Eigentlich ist Zoltán Balázs sogar ein recht attraktiver, schlanker junger Mann. Nur einmal, als das rote Badetuch, das er als Rock um seine Hüfte gewickelt hat, für einen Moment seine Beine freigibt, sieht es aus, als habe er schon manches Mal bis über die Knie im Blut gestanden und manche Verletzung davongetragen.
Dabei steht er noch am Anfang seiner blutigen Karriere. Noch ist er Herzog von Gloucester, ohne realistische Chance auf den Königstitel, aber längst vom Ehrgeiz zerfressen. An diesem Abend im Neusser Globe aber ist Richard ist nicht aufbrausend wie in manchen früheren Inszenierungen erlebt. Er ist auch kein Temperamentsbolzen, dessen Wut leicht entfacht wird. Zoltán Balázs‘ Richard ist ein kühl kalkulierender, fast technokratischer Exekutor der Macht. Statt „droh’nder Gegner Seelen zu erschrecken“, erschreckt er einen Zuschauer in der zweiten Reihe, um anschließend mit ihm Seifenblasen zu spielen. Immer wieder wird er mit dem Publikum schäkern. Der Mann kann doch nicht wirklich gefährlich sein, oder? - Und doch ist er „gewillt, ein Bösewicht zu werden“. Eiskalt entwickelt er die Pläne, die ihn durch Mord und Heirat und wieder Mord und nochmal Mord zur Macht führen - und lässt sich diese Pläne gar vom Volk, vom Publikum absegnen. Er verbirgt seine Bosheit nicht, aber er spielt mit ihr und korrumpiert sein Volk ebenso wie die Herzöge.
Richard ist ein leiser Bösewicht, so wie Sándor Zsótérs ganze Inszenierung leise ist. Nur manchmal legt Balázs etwas Schärfe in seine Stimme. Das reicht schon aus, damit die anderen ruhig sind und sich fügen. Wut setzt dieser Richard allenfalls gezielt ein. Er intrigiert, er umschmeichelt, er nutzt die Dummheit und Vertrauensseligkeit der ihn umgebenden Personen aus, aber mit Ausnahme seines krankhaften Ehrgeizes hat Richard seine Gefühle unter Kontrolle. Nur Lady Anne (Ágota Szílagyi), elegant und wirkungsbewusst gekleidet im Zebra-Umhang mit hautengen lila Leggings, tritt ihm selbstbewusst und wütend entgegen - sie ist - wie auch die stolze Königin Elisabeth (Kata Huszárik) - eine Frau vom alten Schlage. Ist sie also nicht korrumpierbar? Wir wissen es, sie wird Richard später heiraten: „Ich will sie freien, doch nicht lang behalten“, zwinkert der zynische Möchtegern-Bräutigam dem Publikum zu. Dass das Schwert, das Richard Lady Anne anbietet, um ihr seine Aufrichtigkeit und Liebe zu beweisen, indem er ihr gleichzeitig die blanke Brust zum Zustechen entgegenreckt, nichts als ein alberner Kinder-Degen ist, hat metaphorische Bedeutung. Nur vermögen wir sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu interpretieren.
Schon in William Shakespeares Drama mit seiner verwirrenden Vielfalt an Königinnen und Königen, Herzoginnen und Herzögen, Marquisen und Lords steht die Figur des Richard einsam im Vordergrund. In Sándor Zsótérs stark eingekürzter Inszenierung überragt der charismatische Zoltán Balázs scheinbar auch schauspielerisch alle anderen Charaktere; nur die beiden halbwegs selbstbewussten Frauen können ihm ansatzweise das Wasser reichen. Die beiden Mörder (Sándor Markus und Zoltán Friedenthal) werden clownesk ein wenig wie Shakespeare-Narren gezeichnet; Königin Margaret wird ebenfalls von Sándor Markus mit atemberaubender Viktoria-Behr-Turmfrisur gespielt und erntet ein paar Lacher aus dem Publikum. Die Inszenierung verzichtet also nicht auf einen gewissen Humor. Aber in erster Linie fordert sie die Frage heraus: Warum sind die übrigen Männer so blass?
Genau das ist es wohl, was Sándor Zsótér untersuchen will. Warum eigentlich steht niemand gegen diesen schmächtigen, offen mit seinem Zynismus und seinem verbrecherischen Ehrgeiz spielenden Tyrannen auf? Warum scheint jeder daran interessiert zu sein, nicht aufzufallen? Da gibt es die Vertrauensseligen wie Richards Bruder Clarence (Márton Pallag) im blassrosa Frottee-Fell. Er beschwichtigt seine Fürsten-Kollegen und schließt die Augen vor der Realität, bis dass er tot ist. Da gibt es die Altersschwachen wie König Edward IV. (ebenfalls Zoltán Friedenthal), die die Staatsangelegenheiten und Intrigen nicht mehr durchschauen. Vor allem aber gibt es da die Feigen - oder die Leute, die sich im System eingerichtet haben. Selbst bei Buckingham (József Kádas) sind es keine edelmütigen Motive, aus denen er sich irgendwann von Richard abwendet, sondern es ist unbefriedigte Habgier: Der König hält ein Versprechen auf Übereignung von Landbesitz nicht ein. Nur Hastings (Balázs Fila) ist ein aufrechter Oppositioneller - letztlich aber ein Schreibtischhengst, voller Pessimismus. Mária Benedek hat ihn als einzigen in einigermaßen seriöse Farben gekleidet - in Grau…
Dabei wäre es doch so einfach gewesen, den Diktator zu stoppen. Er hat ja nur einen Kinder-Degen. Als Buckingham sich abwendet, wird es einsam um ihn. Und als ihm gemeldet wird, dass Richmond bereits in See gestochen ist, das Land vom Tyrannen zu befreien, kämpft dieser Richard nicht einmal. Er verfällt in tiefe Resignation, vielleicht gar in eine Depression. Richard sitzt in sich zusammen gesunken am Tisch und betrachtet die Spielzeuge seiner ermordeten Neffen. Müde rafft er sich noch einmal zur Hinrichtung von Buckingham auf. Doch was verliert er schon - sein Leben war ja eh inhaltsleer und von einem sinnlosen Streben nach Macht geprägt. Im Grunde implodiert hier ein fieser, ausschließlich auf die schale, von moralischer Haltung und politischen Visionen ungetrübte Macht fokussierter Geist. Er wird verfolgt von den Gespenstern der Vergangenheit; die Geister der Toten erscheinen ihm: Clarence, Margret, Hastings, Dorset. Sie klagen ihn an, und eher widerspruchslos ergibt er sich in sein Ende. Sein großes Selbstgespräch wird zum resignativen Abdankungsmonolog: „Hat mein Gewissen doch viel tausend Zungen / und jede Zunge bringt verschiednes Zeugnis / und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken.“ Er stirbt mit den Worten „Richmond!“ auf den Lippen.
Vielleicht, so scheint die Inszenierung zu sagen, ist es ja viel einfacher als man denkt, sich von einem Tyrannen zu befreien. Es sind natürlich keine Badetücher, in die Mária Benedek fast alle ihrer Schauspieler gekleidet hat. Die verschiedenfarbigen, sehr phantasievollen Frottee-Klamotten wirken eher wie Felle. Das Verhalten, das der machtgierige Richard und seine sich im System einrichtenden Gefolgsleute zeigen, ist nicht neu - es besteht vielleicht seit Beginn der Menschheit und immer so fort. Das Maladype Theater aber erschien noch nicht im Holozän, sondern es stammt aus Ungarn. Es ist dort eines der wenigen freien Theater, dessen Leitung in der Regierungszeit von Viktor Orbán noch nicht durch regimetreue Intendanten oder Technokraten ausgetauscht wurde. Allzu viel Kritik dürfen die Theater in Ungarn nicht mehr äußern. Aber man darf davon ausgehen, dass wie in den meisten Staaten mit eingeschränkter Meinungsfreiheit das Theaterpublikum ein sensibles Ohr für versteckte Botschaften hat. Warum sind eigentlich alle Männer, die den Richard umgeben, so blass? Der hat doch bloß einen Kinder-Degen!