Übrigens …

IchundIch im Schauspiel Wuppertal

Wunderschöne Bilder aus der Hölle

Es gibt ein Vorspiel vor dem Vorspiel. In dem ist das Publikum gefragt: Der Tänzer Douglas Leitheren sitzt im schwarzen Else-Kleid im Schaukelstuhl, und es werden Freiwillige gesucht, die Else Briefe aus dem Heute vorlesen: über eigene Ängste, über die Verdrängung der (nationalsozialistischen) Vergangenheit, über Begegnungen mit dem Rassismus in Deutschland. Die Briefe sind wie Spiegelbilder: Die Ängste, den Rassismus und den Nationalsozialismus hat Else selbst erlebt. Im Jahre 1933 floh sie in die Schweiz.

Am 11. Februar wäre die in Elberfeld geborene Schriftstellerin Else Lasker-Schüler 150 Jahre alt geworden. Sie ist unvergessen, aber ihre sperrigen lyrisch-expressionistischen Texte werden selten gespielt und wohl auch nur noch selten gelesen. In Wuppertal aber windet man der Lokalmatadorin alle Jahre wieder Kränze und macht sich verdient um das Andenken an eine große Lyrikerin und Theaterautorin. Zum 150. Geburtstag richtet man ihr gemeinsam mit Studierenden der Universität der Künste Berlin und der University Tel Aviv ein kleines Festival aus. Höhepunkt und Prunkstück der Lasker-Schüler-Tage ist die Inszenierung ihres letzten, in der Emigration in Jerusalem entstandenen Theaterstücks IchundIch durch die renommierte, häufiger auch in Deutschland tätige israelische Regisseurin Dedi Baron. Das in den Jahren 1940/41 geschriebene Stück galt lange als unaufführbar, dann vor allem in Deutschland als zu provokant. Die Uraufführung fand knapp neununddreißig Jahre nach der Entstehung statt – hier in NRW. Michael Gruners texttreue Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus war beeindruckend, galt manchen aber auch als reichlich weihevoll. Weitere gut neununddreißig Jahre später geht das Schauspiel Wuppertal freier mit dem Stoff um.

Nach der Brief-Lektüre werden wir in den Wuppertaler Riedel-Hallen in einen überwältigenden Raum geführt. Dass die Theater-Scheinwerfer Teil des Bühnenbildes werden, haben wir noch selten erlebt, doch allein der riesige Kranz von eng aneinander platzierten Scheinwerfern, die von der hohen Decke hängen, wirkt wie ein Meisterwerk der Installationskunst. Exakt unter diesen Lichtquellen hat Kirsten Dephoff eine kreisrunde Fläche aus feinkörnigem Sand ausgestreut, die bald zur Spielfläche der Akteure wird. Drum herum stehen Hunderte von Stiefelpaaren. Es sind Militärstiefel, denn es droht eine kriegerische Auseinandersetzung: Die Nazis, von Faust unterstützt, planen die Machtübernahme in der Hölle und bereiten eine Invasion vor. Denn die Sondierungsgespräche in der Unterwelt, in denen Göbbels, Göring, Schirach und Hess mit dem Fürsten der Hölle die Lieferung von kriegswichtigem Erdöl verhandeln, waren wenig erfolgreich. Mephisto ist nämlich ein deutlich zivilisierterer Kerl als die besoffen grölenden Nazis und fühlt sich von den selbsternannten Herrenmenschen abgestoßen. Göbbels macht mit Marte Schwertlein rum (die im Vergleich zum „Faust“ veränderte Schreibweise der Eigennamen orientiert sich an Lasker-Schülers Text), Hitler löst Jesus Christus als Erlöser ab, der Angriffskrieg startet, doch das Nazi-Heer versinkt in Lavamassen. Im letzten Akt trifft die Dichterin im Garten eines Jerusalemer Augenarztes einen Zeitungsredakteur und diskutiert mit einer überraschend belesenen Vogelscheuche, bevor sie sich scheinbar in Luft auflöst und stirbt. Als sie dieses Drama schrieb, war Else Lasker-Schüler selbst schon eine in Auflösung begriffene Vogelscheuche, deren Lebensende absehbar war. Sie starb im Januar 1945, erlebte also das Kriegsende nicht mehr.

IchundIch, das sind Faust und Mephisto, untrennbar miteinander verbunden, obwohl in Sachen Nazi-Invasion und Affinität zur reichsdeutschen Seele auf unterschiedlichen Pfaden wandelnd. IchundIch, das sind aber auch die zwei Seelen in der Brust der Dichterin, der deutschen Jüdin, die über Umwege nach Jerusalem flieht und dort nie heimisch wird. Es sind der Dichterfürst Goethe und die ihm nacheifernde expressionistische Lyrikerin. Und es sind - im letzten Akt – vielleicht auch die Dichterin und die Vogelscheuche. Wer angesichts der obigen stark verkürzten Inhaltsangabe darauf setzt, dass bei einer szenischen Umsetzung auf der Bühne bannig was los sein müsste, erliegt einem Irrglauben. Der Besuch der Aufführung ebenso wie die Lektüre des Texts sind eine Freude für Menschen, die es ertragen können, nicht zu verstehen.

Dedi Baron inszeniert Lasker-Schülers Faust-Überschreibung als ein wahres Crossover-Projekt: als eine faszinierende Melange aus Sprache, Musik, Tanz und Bilderfindungen sowie ein bisschen Video-Kunst. Kaum eine Szene wird dialogisch ausgespielt, nahezu alle Schauspielerinnen und Schauspieler (besser: Performerinnen und Performer) übernehmen die Texte mehrerer Figuren. Thomas Braus gibt weitgehend den Mephisto, die wunderbare Léonor Clary übernimmt die Marte Schwertlein und entwickelt als einzige eine gewisse Erotik, Kenji Takagi ist über längere Strecken als Göbbels erkennbar und Konstantin Rickert als Faust. Klar identifizierbar bleibt vor allem Julia Wolff: Während die übrigen Schauspieler vorwiegend in sandfarbenen Kostümen über die Spielfläche tollen, wandert Wolff wie eine strenge Aufseherin immer um den runden Sand-Kreis herum, in schwarzem Kleid und mit unverkennbarer Lasker-Schüler-Frisur. Sie ist die Dichterin, die versucht, ihr Werk unter Kontrolle zu halten, sich aber nur selten einmischt.

Eingemischt hat sie sich beim Schreiben: Ob man ihren Text tatsächlich noch als „Faust-Überschreibung“ bezeichnen kann, sei dahingestellt. Aber oftmals kopiert sie den Duktus des Goethe’schen Dramas. „Schrieb ich auch nicht in Jamben und Trochäen / meine teuflischen Ideen“, wiederholt Mephisto in Barons Inszenierung ein paarmal – Lasker-Schüler gelingen in ihrem durchgängig lyrischen expressionistischen, im Grunde handlungsarmen Text oft großartige Jamben und Trochäen. Dedi Barons Schauspieler bringen sie zum Klingen – manchmal sogar recht ironisch klappernd. Und dann geschieht in diesem Werk über Gott und Nazis und Teufel ein Wunder: Else klingt manchmal wie Elfriede. Lasker-Schüler wie Jelinek: Es erklingen ähnliche Kalauer wie sie für die Textflächen der österreichischen Nobelpreisträgerin typisch sind, vordergründig witzig, hintergründig bösartig. Tatsächlich ist IchundIch so etwas wie die Vorwegnahme des postdramatischen Theaters. Dedi Baron hat den Text radikal gekürzt (was der Rezeption durch den Zuschauer zuträglich ist), ihn andererseits aber durch viele aktuelle Bezüge angereichert: Da wird erzählt von den rechten Hetzjagden von Chemnitz, von einer – offenbar brasilianischen - Familie, durch die ein Riss geht, weil einige Familienmitglieder den ultrarechten Präsidenten Bolsonaro gewählt haben, und man entdeckt Anklänge und Parallelen zur aktuellen Flüchtlingskrise. Auf den TV-Bildschirmen sehen wir Unmengen an Plastik in Meer schwimmen, und zum „Ballett der Flammen“ in der Hölle flimmern Bilder von Putin, Trump, Netanjahu und Kim Jong-un über die Mattscheibe: ja, zweifellos werden sie sich eines fernen Tages in der Hölle zum Gipfeltreffen versammeln. So genial wie genial einfach gerät der vierte Akt, in dem die Nazi-Truppen gen Reich der Hölle streben, aber vorher in der Lava versinken: Die Kriegsbericht wird uns von Nachrichtensprecher Thomas Braus via TV ins Wohnzimmer geliefert. Die Berichte über den geplanten Sturz des Höllenfürsten durch eine nationalsozialistische Untergrundbewegung, über zerbrechende Allianzen und mühsame Koalitionsverhandlungen klingen absolut heutig.

Großartig ist auch die Musik, meistenteils live gespielt von Frank Schwiklewski, die von hebräischen Volksliedern bis zu Operettenliedern reicht. Den Humor, der sowohl in den manchmal kalauernden Formulierungen als auch in der Absurdität des Geschehens liegt, unterspielt die Inszenierung zugunsten einer durchgängigen Trauer und Melancholie und zugunsten manchmal wunderschöner, oft aber auch verzweifelter Tänze und Bilder. Es gibt freie Tänze und choreografierte Gefühlsbewegungen; einmal gar erleben wir den Ansatz eines Formationstanzes. Dann wieder robbt einer der Schauspieler mit einer Spielzeug-Pistole und einem Spielzeug-Panzer durch den Sand und beschwört Kriegsbilder, die wir aus dem zweiten Weltkrieg, aus dem Sieben-Tage-Krieg und aus aktuellen Konflikten kennen. Aus dem Sand werden zahlreiche Totenschädel und Knochen ausgegraben. Und im fünften Akt, wenn die Nazis endgültig untergehen, steigen die Schauspieler in blutgetränkte Stiefel und grölen die erste Strophe des Deutschland-Lieds.

Es ist ein Feuerwerk von Ideen, das Dedi Baron und ihr Team abschießen. Die grandiose Inszenierung überfordert den Verstand, regt aber alle Sinne an. Wer sich zurücklehnt und sich seinen Assoziationen hingibt, versteht mit dem Gefühl. Die Essenz von Lasker-Schülers „Weltende“ liegt über dem gesamten Abend: „Es ist ein Weinen in der Welt, / als ob der liebe Gott gestorben wär“. Und schließlich „pocht eine Sehnsucht an die Welt, / an der wir sterben müssen.“ Was für eine Hommage an eine unglückliche, unverstandene Frau!