Übrigens …

1984 im Bochum Theater Rottstraße 5

Es ist immer Tag 1

Es ist immer Tag 1“, heißt eine der wichtigsten Regeln der Victory Corporation. Vergangenheit und Zukunft sind abgeschafft. Aber Winstons Widerstand ist nicht so leicht zu brechen. Noch im Folterkeller von O’Brien insistiert er darauf, dass die Vergangenheit weiterhin in Aufzeichnungen und Erinnerungen wachgehalten werde. „So funktioniert die Welt nicht mehr“, antwortet O’Brien. „Wir schaffen eigene Realitäten. Die sind im Kopf.“ Und dieser Kopf wird von der Community gesteuert. Von der Community, deren Wesen und Verhalten wiederum einzig und allein von der Victory Corporation abhängig sind…

Siebzig Jahre sind seit der Erstveröffentlichung von George Orwells Dystopie 1984 vergangen. „Big Brother“ ist längst Wirklichkeit geworden. Regisseur Oliver Paolo Thomas hat die Geschichte am Rottstr 5 Theater in Bochum in die Welt von Internet und vollständiger digitaler Kontrolle geholt. Die gegnerischen Supermächte Eurasien und Ostasien, deren Existenz schon bei George Orwell fraglich ist, gibt es nicht mehr; Ozeanien ist die Victory Corporation, eine „vereinte globale Community“, die noch mit den letzten Zuckungen eines scheinbar aussichtslosen Widerstands kämpft. Zu Beginn des Abends erscheint sie als eine Art Gesundheitsdiktatur. Die Menschen schlucken Sensoren, die - angeblich zu medizinischen Zwecken - alle möglichen Daten übermitteln und ein frühes Eingreifen zur Sicherung eines langen Lebens ermöglichen. Die Daten werden in einer Cloud gespeichert und vernetzt, so dass jederzeit zum Wohle der Menschheit darauf zurückgegriffen werden kann und Erkenntnisse der Forschung (und nicht nur dieser) geteilt werden können. Regelmäßige Workouts im Fitness-Center sowie das Einhalten von durch die Victory Corporation aufgestellten Regeln sind verpflichtend; dafür ist der Service kostenlos. Wenn man es recht bedenkt, könnte so etwas auch in unserer Gesellschaft ein von großen Teilen der Allgemeinheit akzeptiertes Einfalltor für Big Brother sein, denn die mit dem Service verbundenen Vorgaben sind wahrscheinlich mega öko und supergesund. Es gibt ja heute schon Initiativen und Teile von politischen Gruppierungen, die der Bevölkerung ihre Ernährungsweise und ihren Umgang mit dem eigenen Körper vorschreiben möchten und auf der Basis des überwachten Individualverhaltens Belohnungs- und Bestrafungs-Systeme bei Lebens-, Kranken- und Kfz-Versicherungen einführen wollen. So fängt das immer an…

Aber so hört es nicht auf: Bewegungsprofile werden erstellt; Partizipationsrankings im Hinblick auf die Teilnahme an allerlei gesellschaftlich erwünschten Aktivitäten - und vor allem im Hinblick auf eine eventuelle, vom Staat natürlich abgelehnte individuelle Lebensgestaltung: „LPT“ fordert die Victory Corporation: „Leidenschaft, Partizipation, Transparenz“. Denn: „Wie könnte jemand ablehnen, immer beobachtet zu werden? Wer weiß, dass er immer beobachtet wird, verhält sich nie mehr unmoralisch. Das ist der Weg zur Perfektion.“ Und: „Triviale Instinkte und Geheimnisse werden unterdrückt.“

Schlecht für Winston, der gerade noch beglückt von der verführerischen Schminke der Prostituierten erzählt hatte, mit der er sich eingelassen hatte. In einem System, in dem alles durchleuchtet wird, wächst die Sehnsucht „nach einem Ort, an dem es noch Dunkelheit gibt.“ Gleich die erste, stumme Szene, mit der Matthias Zera als Winston und Kristina Peters als Julia den Abend eröffnen, spielt im Dunkeln. Sie ist eine der intensivsten der eindreiviertelstündigen Aufführung und stammt aus der Mitte des Romans. Wie ein konspirativer Agent betritt Winston die Bühne und wickelt vorsichtig ein Buch aus. Das einzige Licht, das die Szene erhellt, kommt auf der Tiefe des schwarzen Schirms, mit dem Winstons Geliebte Julia hinter ihm steht. Winston dreht sich um, schnüffelt zutraulich am Schirm - und Julia zieht sich zurück. Spannung liegt über der Szene, ein Hauch von Singing in the Rain und ein Hauch von Agententhriller. Perfekt ist die Stimmung zwischen verbotener Liebe und Bedrohung ausbalanciert. In diesem Moment taucht O’Brien auf: „Wie hat es angefangen, Winston? Denk nach!“ - „Ich hatte ein Buch.“ Bücher und Liebe, auf Papier Geschriebenes und mit dem Herzen Gefühltes aber sind verboten im Überwachungsstaat, weil sie nicht digital kontrollierbar sind.

Nach dieser kurzen Einführung-Szene, die der Geschichte vorgreift, erzählt Thomas den ersten Teil des Romans in einer Art Rückblende völlig neu. Orwells Überwachungsstaat muss heute neu definiert werden - eben in Form von digitaler Kontrolle. Der zweite und der dritte Teil, die kurze, aber gefährliche Liebe zwischen Julia und Winston und die Folterung Winstons nach der Festnahme der Liebenden, bleiben dagegen (wenn auch unter massiven Kürzungen und Auslassungen) sehr nah am Roman. Julia, die zunächst auf der Seite der Victory Corporation zu stehen scheint, offenbart Winston ihre Liebe, und der ihr seine Sehnsucht nach Dunkelheit. Der Dirty Talk dieser Liebe geht so: „Ich hasse Reinheit.“ - „Ich will, dass Victory verrottet.“ - „Ich will, dass du verdorben bist.“ Ein Tanz, ein Schaukeln auf dem von der Decke schwebenden, in seinen Schwankungen von den individuellen Bewegungen der Schauspieler beeinflussbaren Rondell bedeutet Glück: freie, allenfalls durch einen ordnungspolitischen Rahmen reglementierte Gestaltungsmöglichkeiten. Doch das Glück währt nur kurz: Winstons Engagement für die Bekämpfung des Systems führt zum Streit. Julia will freie Liebe, Winston ein freies Land.

Auch Winston und Julia werden abgeholt, wie so viele Systemkritiker vor ihnen. Vielleicht sind sie für die Öffentlichkeit „ausgelöscht“ wie die anderen. Kaltlächelnd bedeutet O’Brien seinem Gefangenen, als der seine individuelle Existenz zu behaupten versucht: „Du existierst nicht“. Doch er existiert im Folterkeller, wo Winston in der dritten halben Stunde der Aufführung wie bei Orwell ein langes Gespräch mit dem vorübergehend für einen Freund gehaltenen O’Brien führen kann. Lange Zeit hatten - zumindest in der besuchten Vorstellung - die Schauspieler allzu gebremst agiert und es nicht vermocht, die abgründige Atmosphäre herzustellen, die der Text verlangt. Selbst die chorische, rituelle Wiederholung auswendig gelernter Merksätze, die wie in real existierenden totalitären Staaten das Regime stabilisieren sollen, hatten zwar intellektuelles, aber kaum emotionales Gruseln ausgelöst. Das Verführerische des Gesundheitsstaats, das Kristina Peters als Personalchefin Julia hätte verkörpern sollen, das Mephistophelische des O’Brien, der die Überflüssigkeit einer Regierung beschwört („Wir bei der Victory Corporation wissen, was die Menschen wollen“) kommt atmosphärisch oft nur andeutungsweise rüber. Jetzt aber, in der Hölle des Folterkellers, wird es beklemmend. Auch das Besetzungskonzept der Aufführung wird nun deutlich: Tim-Fabian Hoffmann ist im Vergleich zu dem kräftigeren Matthias Zera das reinste Babyface. Geradezu sanft ist sein O’Brien, wenn er Hoffmann die Ungeheuerlichkeiten des totalitären Staats nahebringt, wenn er ihm die Schmerzen zufügt, die Zera zum Gotterbarmen schreien lassen. Das ist gruselig. Und als Winston immer noch von der großen Menschheitsrevolte träumt, trifft uns O‘Briens zynische Gesellschaftsdiagnose ins Mark. Jeder wird sie auf sich selbst bezogen haben oder jemanden kennen, der gemeint sein könnte, als Hoffmann prognostiziert: „Die Menschen werden nicht revoltieren. Sie sehen nicht lange genug von ihren Bildschirmen auf, um zu begreifen, was passiert.“

Als der gefesselte Winston seine Julia verrät, wird er losgeschnallt. Julia betritt die Szene, wie zu Beginn mit ihrem schwarzen Regenschirm und der schwachen Leuchte darin. Sie gestehen einander den gegenseitigen Verrat. Aber Julia sagt: „Wir müssen uns wieder sehen.“ Ob das Widerstand oder Anpassung bedeutet, bleibt offen. Aber es ist immer Tag 1.