Liebesgeschichte statt Migranten-Drama
Nichts als ein heller Kubus steht auf der Bühne des Wuppertaler Theaters im Engelsgarten. Zu Beginn ist er noch mit durchsichtigem weißem Papier verhüllt. Darin erkennt man einen aus wenigen Holzbalken zusammengesetzten Tisch - bei großzügiger Auslegung könnte man von modernem Bauhaus-Stil sprechen. Nachdem Philippine Pachl den Kubus betritt, sieht man sie als Schattenriss beim Maschineschreiben. Ebenfalls als Schattenriss nähert sich ihr ein Mann, der sie fast verschlingt. Er isst ihren Schuh. - Ist das Liebe, ist es Kannibalismus, ist es ein Bild für Okkupation? Dragomir, immerhin, ist der Mann „unterm Tisch“, der dortselbst den Winter verbringt. Das könnte ja auch bedrohlich sein. Oder: Unterschicht bedroht Oberschicht - siehe unten. Aber etwas Bedrohliches hat Stefan Walz ganz und gar nicht. Florence, die Maschineschreiberin, Übersetzerin ihres Zeichens, spricht ihn an. Warum auch nicht - Dragomir ist schließlich ihr Untermieter.
Warum auch nicht? Florence kann das bisschen Geld, das ihr die Miete einbringt, sicher gut gebrauchen, und Schuster Dragomir, Migrant, mittellos, kann sich mietpreisbedingt kaum mehr leisten als die ein oder zwei Quadratmeter unter Florences Schreibtisch. Wenn Walz wie selbstverständlich dort hockt, den Kopf zwischen den Beinen der blonden, in einen luftigen weißen Glockenrock gekleideten Philippine Pachl, dann hat das etwas so Zartes wie das weiße Papier, das den Kubus zu Beginn verhüllt oder wie die leichte, transparente Konstruktion des Tisches. Der Kopf des Mannes zwischen den Beinen der schönen Frau - das hat beileibe nichts Obszönes; kaum spürbar weht allenfalls ein zarter Hauch von Erotik herüber. Es ist eine Erotik, der sich die Vermieterin und Untermieter kaum bewusst sind und die sie im sachlichen Gespräch geflissentlich übersehen. So könnte man sich verlieben, denkt man als Zuschauer, so zart, ohne jede Aggressivität und ohne jedes sexuelle Begehren könnte eine Liebe fürs Leben entstehen - aber auch ein lebenslanges Verfehlen des passenden Partners. Nichts wird sich in der ersten halben Stunde der 90minütigen Aufführung tun im Hinblick auf eine Annäherung der beiden: Es gibt nur das leichte Parlando der hübschen Frau auf dem Sitz mit den überlangen Stuhlbeinen und des Mannes unterm Tisch, der tut, als nähme er die wundervollen Ausblicke, die sich ihm böten, wenn er nur genauer hinschauen wollte, nicht wahr. Erst als Florence - absichtlich oder nicht - einen Knopf an ihrer Bluse verliert, wird die sanfte Liebesgeschichte auf eine berührend skurrile, unbeholfene Weise körperlich.
Die bis dato sachliche Romanze wird erst gestört, wenn die Außenwelt in die kleine absurde Idylle eindringt: Florences Freundin Raymonde zum Beispiel. Lena Vogt ist kostümiert wie ein blau-weißer Marienkäfer, frisiert wie eine Enkelin von Mireille Mathieu und bebrillt wie Nana Mouskouri. Sie weist gouvernantenhaft auf die delikate Situation hin und drängt sich später zwischen das adrette Paar. Fast clownesk stolpert Florences Verleger Marc Thyl in die Wohnung: ein, wie Dragomirs inzwischen ebenfalls aufgetauchter Cousin Gritzka treffend feststellt, „aufgeblasener Pavian“ mit „Verrätergrinsen“, der sich vordergründig nach dem Stand von Florences Übersetzung erkundigen, tatsächlich aber die hübsche junge Dame abschleppen will. Gritzka, bei dem großartigen Martin Petschan im Strizzi- und Ganoven-Outfit, müsste sich die beleidigenden Wort über Thyl eigentlich sparen, aber tatsächlich hat er das Herz am rechten Fleck und trägt nicht unwesentlich dazu bei, dass Schirin Khodadadians Aufführung nach einigen Irrungen, Wirrungen und Intrigen mit einem wunderschönen, märchenhaften Happyend schließt.
Dabei hatte es kurz zuvor noch geheißen: „Die Liebe ist eine Beigabe zum Fortpflanzungstrieb. Aber warum soll ich mich fortpflanzen für eine Rasse, die ich nicht liebe?“ Khodadadian verschmäht die Angebote, die das selten gespielte, aber plötzlich auch voller aktueller politischer Bezüge steckende Stück des französischen Multitalents Roland Topor aus dem Jahre 1994 bietet, und sie ignoriert den Pessimismus, der trotz der unterhaltsamen absurden Konstellation in vielen Bemerkungen durchscheint. Immerhin handelt es sich bei Schuster Dragomir und dem Musiker Gritzka um illegale Migranten, um sogenannte „Sans-Papiers“, wie sie zur Entstehungszeit des Stückes in Frankreich bezeichnet wurden. Weniger sensible Zeitgenossen bezeichneten sie damals auch als „Untermenschen“ - dass sie „unterm Tisch“ landen, ist also metaphorisch, und dass zunächst Toleranz, später auch Liebe sie ins Obergeschoss der Gesellschaft holen, ist wohl nur eine Utopie - ein Märchen halt. Raymonde steht für die Auffassung der Mehrheitsgesellschaft damals und auch heute: „Willst du bis ins hohe Rentenalter mit deinem Migranten rummachen?“, fragt sie: „Das Land ist in der Krise.“ So zieht Raymonde, neben Thyl die unsympathische Figur der Geschichte, das Liebes- und Eifersuchtsdrama ins Politische. Das aber verweigert die Regisseurin.
Sie verweigert es zugunsten der zarten Poesie, des betörenden surrealistischen Schwebezustands. Das wäre zu akzeptieren, zumal Florence, Dragomir und Gritzka bei aller schon vom Autor angelegten Weltfremdheit sehr individuell gezeichnete, aber auch ungeheuer sympathische Figuren sind. Khodadadians Sichtweise auf das Stück könnte in einen wunderbar leichten, etwas verrätselten poetischen Abend mit Tiefgang münden. Doch leider ist die einzige, die wirklich tolle Ideen zur Gestaltung der Inszenierung hat, die Ausstatterin Carolin Mittler, deren transparentes und doch nur zart angedeutetes Bühnenbild und deren humorvoll karikierende Kostüme perfekt zum Stück und zur Inszenierungsabsicht passen. Die eher uninspirierte Schauspieler-Führung und der Mangel an überraschenden Inszenierungs-Ideen dagegen verkleinert das Stück zur Petitesse. Eine Petitesse aber ist es nicht: Es lohnt sich, den Text kennenzulernen. Dazu immerhin bietet das Schauspiel Wuppertal eine gute Gelegenheit.