Licht in schemenhafter Apokalypse
Ein ohrenbetäubender Knall. Grelle Blitze. Dann Dunkelheit.
Ein Spot richtet sich auf das Gesicht einer jungen Frau, die auf der Bühne langsam nach vorne kriecht. Im Dämmerlicht bewegen sich schattenhaft Figuren hinter ihr. Sind es Menschen, Tiere? Später einmal erfahren wir, dass die Stadt voller Tierkadaver lag, Füchse, Biber, ein Pferd.
„Jetzt ist es passiert. Jetzt ist die Welt eine andere“, konstatiert die junge Frau, erhebt sich, geht zum Mikro am Bühnenrand, stellt sich dem Publikum vor: sie sei Charlie, von der Mutter zwar Charlotte, nach der Schauspielerin Charlotte Rampling benannt, beharre aber schon seit der Einschulung auf der Abkürzung Charlie, da ihr ihre „Persönlichkeit wirklich nicht wie etwas vorkam, das drei Silben gerechtfertigt hätte“. Da blitzt schon der Kernkonflikt der Geschichte auf: der Mutter-Tochter-Kampf. Charlie (hinreißend: Lea Ruckpaul) beschließt, uns rückblickend von den Katastrophen ihrer Kindheit und Jugend zu berichten. Wie sie da steht, in schwarzem Turndress, Hemd und kurzer Hose, mit zum Zopf geflochtenem Haar, möchte man eher das zwölfjährige Mädchen, von dem sie berichtet, in ihr sehen als die erwachsene Frau, die inzwischen selbst Kinder hat.
Während Charlie die prekären Wohnverhältnisse im Beton-Hochhaus schildert, in dem sie mit der Mutter auf Wohnberechtigungsschein lebte, erscheinen im Hintergrund Videos vom Karree der Sozialbauten und von Kindern im Strichmännchen-Stil, weiße Kreide auf schwarzem Grund, wie Kleinkinderzeichnungen oder Comics. Dann taucht die Mutter auf, schön, fragil, ganz in Schwarz (grandios: Judith Rosmair). Hektisch zeichnet sie Bilder, Fratzen, zerstört sie gleich wieder, schwankt zwischen aggressiven Schüben und zärtlicher Bedürftigkeit. Irgendwann schwingt sie volltrunken ein Messer, unklar, ob gegen sich oder Charlie. Wenn das Geld alle ist, hungern beide bis zur Bewusstlosigkeit, leben von Schnittlauch auf Zuckerwürfeln. Nur der Alkohol scheint nie auszugehen. Sprachlich rasant, furios, atemlos strömt das apokalyptisch düstere Familiendrama aus der Protagonistin heraus und wird in scharfe, faszinierende Schwarzweiß-Kontraste (Bühne: Maria Reyes Péres, Licht Christian Schmidt) und eine bedrängende, knallharte Geräuschkulisse übersetzt.
Nach außen aber signalisierte Charlie als Schülerin eine perfekte Lügenkulisse: „Ich hatte Angst, missachtet zu werden. Alles was ich wusste, war, dass man mich, würde irgend jemand Zeuge meines echten Alltags werden, nur noch als stigmatisierte Kriminelle behandeln konnte.“ Doch dann durchbricht ihr Schulkamerad, der junge Türke Iskender (Jonas Friedrich Leonhardi), die Schutzwand, trifft in der chaotischen Wohnung auf die schizophrene Mutter in krasser Verwahrlosung, volltrunken, aggressiv, ein Ungeheuer. So wird er unfreiwillig Zeuge des Unglücks. Wieso der Regisseur diese Figur im Gegensatz zum Roman-Vorbild stark verunsichert und mit ADHS-Symptomen ausstattet, bleibt rätselhaft. Dennoch kommt es später zu einer eindrucksvollen Szene während seines Monologs, in dem er über seine „Scheißangst“ vor dem Leben nachdenkt. Charlie, die jetzt aus der Rolle der erwachsenen Erzählerin rasant in die der jungen Mitspielerin wechselt, hantiert während er spricht mit langen weißen Brettern: kastelt sich zunächst selbst damit ein, um sich dann zu befreien und aus den Brettern eine Brücke zu dem Jungen hin zu bauen. Eine anrührende Geste. Überhaupt legt Helene Hegemann eine beruhigende Spur des Versöhnlichen durch das sonst so bedrückende Werk, die der Regisseur in stillen Szenen aufnimmt. So erinnert sich die kranke Mutter in klaren Momenten beinahe rührend ihrer Mutterrolle und Charlie hört trotz aller Zumutungen nicht auf, sie zu beschützen und zu lieben.
Umspült wird die verheerende Familiensituation von einer dystopischen Umwelt: draußen herrschen Massen-Suizide, sintflutartigen Überschwemmungen und Explosionen, die Welt wird verwüstet von Umwelt-Katastrophen und Kriegen. Tiere verenden auf der Straße. Die Katastrophen der ganzen Welt scheinen alptraumhaft in Charlies Realität einzubrechen. Es herrscht in schemenhaft düsteren Bildern Weltuntergangsstimmung.
Doch dann erstrahlt mitten auf der Bühne ein riesiges, grellbuntes Video mit zwei überdimensional großen Menschenköpfen: Maria und Georg, zwei Schauspieler, die neuen Bewohner im angrenzenden vornehmen Bungalow-Viertel. Charlie berichtet, wie sie vom Balkon hinüberschaute, ihnen zusah beim Sex und zuhörte bei ihren Scherzen. Wie sie sich mehr und mehr in das Paar verliebt und zu ihrer Sexgespielin wird. Und dass sie sich eines Tages entscheidet, zurückzukehren. Sie zertritt die bunte Videowand, verlässt die glitzernde Parallelwelt, läuft zurück zur Mutter: „Sie wusste, was passiert war. Sie wusste immer, was passiert war. Sie hatte mir vertraut.“ Aus Hass wird Erbarmen. Ein Erbarmen, das sie zur Person ihrer selbst werden lässt.
Am Ende sind beide völlig derangiert, farbverschmiert, ermüdet vom Kampf. Dann wird der Mutter eine schwarzglänzende Folie umgelegt - fast ein wenig sakral. Wie zu Beginn blitzt zu erschreckendem Kriegs-Getöse grellblendendes Licht auf.
Die Welt bleibt die alte. Doch Charlie findet trotz postapokalyptischer Szenerien und persönlicher Zumutungen letztlich zu sich selbst.
Das Kleine Haus am Gustaf-Gründgens-Platz in Düsseldorf feiert seine Wiedereröffnung mit dieser Uraufführung der Adaption des Romans Bungalow von Helene Hegemann, der im Jahr 2018 für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Die im Roman als stream-of-consciousness, als innerer Gedankenstrom atemlos erzählte Geschichte wurde vom Regisseur Simon Solberg gemeinsam mit den Darsteller*innen im Team fürs Theater bearbeitet. In fantastischem Zusammenspiel von Licht, Bühne und Ton entstand ein ergreifendes Bühnenkunstwerk, das von sechs Schauspieler*innen grandios auf die Bühne gebracht wurde und die Zuschauer über fast zwei Stunden in Atem hielt. Sie dankten mit begeistertem Applaus und lautem Jubel.