Übrigens …

Thyestes Brüder! Kapital im Forum Freies Theater Düsseldorf

Durst über dem Wasser, Angst unter dem Stein

Vor Seneca kommt Heiner Müller. Dem deutsch-deutschen Dramatiker und Geschichts-Pessimisten war das antike Pathos ebenso wenig fremd wie dem römischen Schriftsteller und Philosophen, und ähnlich sprachmächtig wie jener vermochte er die Gräuel der antiken Mythen zu formulieren. Kurz nach dem Einlass in die „Botschaft“ am Worringer Platz schallen seine Verse aus Opfer und Täter aus dem Jahre 1969 vom Band, in denen er die grauenerregende Geschichte vom Tantalidenfluch zusammenfasst, vom ewigen Kreislauf innerfamiliärer Rache und Gewalt, den die Götter dem Geschlecht der Tantaliden verordnet haben und der über fünf Generationen andauerte. Die Götter verhängten schon gegen Tantalus selbst schwere Strafen für seinen Frevel gegenüber den Göttern und seinen Sohn Pelops: „tantalos hängt an einem obstbaum, der unter einem schwebenden felsen in der dreifach ummauerten mitte des hades aus einem teich wächst, in ewigem hunger zwischen den früchten. durst über dem wasser, angst unter dem stein.“

Durst über dem Wasser, Angst unter dem Stein: Der Ton des Abends ist gesetzt: Düsternis, Unerbittlichkeit, Rache, Qual, Hass und Angst. Und Pathos. Zweimal wird der Heiner-Müller-Text gelesen. Beim zweiten Mal ziehen sich die unauffällig mitten unter den Zuschauern platzierten Performer nackt aus. So werden sie spielen, zweieinhalb Stunden lang, und das hat nichts mit Erotik zu tun, nichts mit Schutzlosigkeit wie einst im Tanztheater, sondern es erscheint als natürliche Voraussetzung für das immer wieder die Bildende Kunst zitierende Körpertheater, das das theatercombinat Wien unter Claudia Bosse betreibt. In einer Selbstbeschreibung definiert die Gruppe ihr Tun als „radikale Versuche des körperlichen Denkens in Räumen“ und das Schaffen von „soziale(n) Skulpturen als temporäre(n) Gemeinschaften einer körperlichen Auseinandersetzung zu Fragen unserer Gegenwart“. Auf den Thyestes-Abend bezogen liest sich das wie folgt: „Gegenwärtige Leiber, die mit ihrer Biografie, die tief in ihr Fleisch eingeschrieben ist, der antiken Überlieferung eines Bruderkampfs begegnen, diesen durch sich und in sich bewegen. Das Ergebnis spucken sie aus.“ Originalton Claudia Bosse – besser kann man die Ästhetik des Abends kaum zusammenfassen.

Doch zunächst zu Plot und Raum: Wenn man die schmale Fassade der „Botschaft“ sieht, in der das FFT Düsseldorf schon häufiger ungewöhnliche Inszenierungen gezeigt hat, ahnt man nicht, was für eine riesige kahle, sich in Länge und Breite weit öffnende Raum-Landschaft hinter dem schmalen Foyer verborgen ist. Wir werden diese Räume durchwandern, uns auch schon mal müde auf den Fußboden kauern. Mitten unter uns agieren die Schauspieler, die, vor allem wenn sie als Chor fungieren, auf uns zu und durch uns hindurch laufen und manchmal intensiven, durchdringenden Blickkontakt suchen. Wir werden einbezogen in den Mythos, ausgesetzt der entsetzlichen Geschichte und sollen anhand des grausamen antiken Texts unsere Gegenwart reflektieren. Spätestens wenn Juri Zanger, züchtig bekleidet und tapfer gegen die fortschreitende Handlung der antiken Tragödie ansprechend, einen langen Text aus Karl Marx‘ „Grundrisse der Kritik einer politischen Ökonomie“ spricht, wird dies auch dem letzten Zuschauer deutlich.

Ansonsten ist der Transfer in die Gegenwart zugegebenermaßen eine schwierige Aufgabe, denn die rhythmische Rezitation der antiken Verse verlangt schon dann jede erdenkliche Konzentration, wenn man nur der Geschichte folgen will: Als Pelops, besagter Sohn des Tantalos, stirbt, kloppen sich seine beiden Söhne Atreus und Thyestes um Macht und Thron. Der Geist des Tantalus, aus dem Hades zurückgekehrt, facht, von den Furien gezwungen, die Feindschaft zwischen den Brüdern noch an, und Atreus, der erfährt, dass Thyestes seine Ehefrau verführt hat, sinnt auf Rache. Zum Schein schlägt er Thyestes vor, sich die Macht im Reich zu teilen. Doch Atreus tötet Thyestes‘ Söhne und setzt sie ihm zum Mahl vor. Vor Entsetzen ziehen die Götter die Sonne zurück, und eine unnatürliche Dunkelheit legt sich über die Stadt. Als Thyestes begreift, was Atreus ihm angetan hat, sagt er ihm die Rache der Götter voraus. Aber die bleiben stumm.

Es ist, als hätte Heiner Müllers Text die fünf Performer des theatercombinats Wien zum Leben erweckt. Bevor auch sie ihre Geschichte erzählen, erwachen sie langsam und erinnern sich: Aus tiefstem inneren Leid stoßen sie erschütternde Schreie aus, begleitet von einem elektronischen Trommelwirbel. Eindrucksvoll drückt Rotraud Kerns Gesicht die Angst aus, die Heiner Müller beschrieben hat. Lilly Prohaskas Körper wird von den übrigen Akteuren mit weißer Farbe bestrichen. Die Schauspielerin mutiert zu dem aus dem Totenreich zurückgekehrten Tantalus, der, die Worte tatsächlich widerwillig und voll Schmerz ausspuckend, sein Leid beklagt. Prohaskas zuckender, sich windender und verschraubender Körper wirkt wie von Francis Bacon erschaffen – so wie Bosses Inszenierung ohnehin mehrfach Anleihen bei der Bildenden Kunst nimmt. Rotraud Kern, inzwischen ganz mit Goldfarbe bemalt, ist die Furie: Sie bedrängt Tantalus körperlich, krabbelt über ihn wie ein bedrohliches, riesiges Insekt, drängt a tergo in ihn hinein wie bei einer Vergewaltigung. Und ruft doch aus: „Komme doch, Nacht, lass Tageslicht schwinden!“

Draußen schwindet das Tageslicht, drinnen wird das Drama immer düsterer. Unversöhnlicher Hass spricht sogar aus den Worten des Chores. Mit einer von der Regisseurin entwickelten Sprachpartitur beschließt der Chor vier der fünf Akte. Dazu bewegen sich die fünf Performer(innen), die in ihrer Gesamtheit auch den Chor bilden, zwischen den auf dem Boden sitzenden oder im Raum stehenden Zuschauern, laufen auf sie zu, fixieren sie gelegentlich mit durchdringenden Blicken. „Aus trockenem Flussbett schlürft er den Staub“, heißt es in Durs Grünbeins eindrucksvoller, gelegentlich moderne Begriffe in den altrömischen Text schmuggelnder Übersetzung – und da löst sich Mun Wai Lee aus dem Chor, wird zu Atreus und erleidet einen Erstickungsanfall. Er hustet, wälzt sich hin und her - und wird mit schwarzer Farbe eingeschmiert. Verbal angegriffen, rafft sich Atreus auf zu energischem Widerspruch. Große Suggestivkraft entwickeln Grünbeins exakt komponierte Texte, weil auch Claudia Bosse und ihr Schauspieler-Team sie als kraftvolle, vor altrömischem oder -griechischem Pathos nicht zurückschreckende Partitur sprechen.

Erst nach etwa einer Stunde gibt es den ersten echten Dialog des Abends – zwischen Lees Atreus und Nic Lloyds Thyestes. Lee kriecht Lloyd fast in den weit geöffneten Schlund: Zwar lockt Atreus den Bruder aus Angst vor einem Bürgerkrieg mit gespielter Versöhnlichkeit und dem Versprechen geteilter Macht aus dem Exil, doch sind seine Absichten unlauter. Wenn er Thyestes im Dialog so nahekommt, dass dem kaum Luft zum Atmen bleibt, ist das kein Bruderkuss, sondern Teil des Machtkampfes, der mit dem Verschlingen des Gegners und seiner endgültigen Vernichtung enden soll. - Wie in Zeitlupe wird sinnbildlich die Verführung von Atreus‘ Gattin durch Thyestes dargestellt. Die Körper werden zu antiken griechisch-römischen Skulpturen, aber auch Schlachtengemälde aus dem 16. oder 17. Jahrhundert kommen einem in den Sinn. „Aufrechter Sinn überlebt jeden Feind?“ – Das war wohl damals wie heute viel gepredigte Moral, die zu befolgen sich in der Praxis nicht immer bewährte…

Es zieht ein Jugendchor ein, der die Anbindung an die Gegenwart endgültig deutlich macht. Auf den Videos von Günther Auer, der auch für den suggestiven Soundtrack verantwortlich zeichnet, sehen wir Straßenszenen von heute. „Was, wenn die Natur zurückholt die alte Erde?“ – Das ist eine Frage, die heute von Greta Th. bis Angela M. alle engagierten Menschen bewegt – nur die nicht, die in narzisstischer Machtbesessenheit an ihrem Thron kleben wie Donald T. oder Jair B.. Juri Zanger klettert auf eine Leiter, deklamiert den erwähnten endlos langen Karl-Marx-Text über das Verhältnis zwischen Produktion und Konsumption und wirkt ein bisschen wie ein sozialistischer Politiker auf einer Parteitagsrede. Währenddessen nehmen die übrigen Schauspieler ihren Text wieder auf.

Am Ende unserer langsamen Wanderung durch das Hinterland der „Botschaft“ öffnet sich ein Vorhang. Der sturzbetrunkene Thyestes genießt seine Mahlzeit. Er rülpset, so hat es ihm wohl geschmacket. Noch weiß er nicht, dass er gerade seine Kinder verspeist hat. Hinter ihm stehen Chor und Jugendchor. Atreus feixt. Nur ein paar Reste von rohem, blutigem Fleisch sind übrig geblieben von Thyestes‘ Nachkommen. Nun gehört Atreus der Thron. In der „Botschaft“ wird es dunkel. Die Götter ziehen die Sonne zurück. Wie hatte Rotraud Kern zu Beginn gesagt: „Komme doch, Nacht, lass Tageslicht schwinden.“„Ach blieb es dich immerfort Nacht“, steht in Druckbuchstaben auf der Wand gegenüber von Thyestes‘ Esstisch…