Die Nacht von Lissabon im Theater Gütersloh

Migranten-Drama und Europa-Reise

Es ist, wie es meistens ist, wenn Schauspieler von der Bühne aus mit dem Publikum anbändeln wollen: Die Zuschauer sind a bisserl gschamig. Das sei eben „die spröde Geilheit Ostwestfalens“, frotzelt Dimitrij Schaad – und hat das Eis gebrochen. Er stellt noch ein, zwei Quiz-Fragen, schwadroniert ein bisschen über das Exemplar von Erich Remarques Roman Die Nacht von Lissabon, das er in der Hand hält (eine abenteuerliche Geschichte eignet er der DDR-Erstausgabe von 1986 zu) und kommt – vielleicht die Auflösung der Frage nach dem Grund für die späte DDR-Ausgabe – zur Wichtigkeit eines gültigen Reisepasses. Nach langen ziellos, aber lustig vergehenden Minuten zieht er sich um, präsentiert – fishing for compliments – seinen nicht mehr ganz perfekten, aber doch recht ansehnlichen nackten Bauch und sagt: „Ich möchte diese Nacht nicht alleine bleiben.“

Das ist ein Satz aus der Rahmenhandlung von Remarques Roman. Der Emigrant Josef Schwarz spricht ihn aus, der – wir sind in der Zeit des Zweiten Weltkriegs - zwei lang ersehnte Visa für sich und seine Frau für die Schiffspassage von Lissabon in die USA in Händen hält. Der Adressat des Satzes ist ein weiterer deutscher Emigrant, der weder Geld für die Schiffspassage noch Visa für das Gelobte Land hat. In dieser Nacht von Lissabon wird Josef mit seiner Zufallsbekanntschaft um die Häuser ziehen und ihm seine Lebens-, Liebes- und Fluchtgeschichte erzählen. Danach wird er dem Unbekannten seine Visa und die Tickets für die Überfahrt schenken. Denn Josefs Frau ist tot. Sie war krebskrank. Am Tag vor dem Erhalt des Visums ist sie verschwunden. Sie hat Gift genommen, denn sie weiß: Die Vereinigten Staaten nehmen keine kranken Migranten auf.

Vom Tod der Frau erfahren wir in Hakan Savas Micans Inszenierung vom Gorki Theater Berlin schon in der ersten echten Spielszene, vom Gift und dem mutmaßlichen Grund für den Selbstmord erst in der letzten. In Rückblenden erzählen Roman und Inszenierung von der Flucht des Paares Josef und Helen. Josef, der schon vor dem Krieg allein nach Paris emigriert war und Helen zurückgelassen hat, kehrt zurück nach Osnabrück, um seine Frau zu holen. Er flieht mit ihr über die Schweiz nach Frankreich, wo sie eine kurze Zeit der Ruhe und des Glücks genießen können, Bei Kriegsausbruch werden beide in getrennten Lagern interniert, fliehen dann weiter nach Marseille und schließlich durch Spanien nach Lissabon. Helens Bruder Georg, ein hoher Gestapo-Offizier, verfolgt und stellt sie und wird von Josef getötet. Mit dessen geliehener Autorität - sprich: mit den Papieren des Gestapo-Schergen - gelingt der Grenzübertritt nach Spanien und Portugal. Doch das Happyend bleibt aus.

Großzügig betrachtet, folgt Micans Inszenierung der Struktur des Romans mit seiner durch gelegentliche Ortswechsel bedingten wiederholten Rückkehr zur Rahmenhandlung. Doch sind die zuweilen wie Extempores wirkenden (aber natürlich genau einstudierten) Einschübe lang und die Spielhandlungen kurz. Unvermittelt wechselt Schaads Erzählung die Blickrichtung. Parallel zur gefährlichen Europa-Reise der Protagonisten des Romans wird auch von der Reise Micans nach Paris erzählt, wo er eine Exfreundin trifft und, vermutlich schon angesäuselt von dem einen oder anderen Landwein, offenbar romantischen Gedanken nachhängt. Da betritt die Ex das Bistro, noch immer gutaussehend, aber mit einem kleinen Kind an der Hand. - Bad luck, aber in seiner Tragik nicht mit dem Schicksal von Josef und Helen vergleichbar. Ist das witzig? Ist das selbstironisch wie so vieles an diesem Abend? Schaad macht die Anekdote durchaus zu einer komödiantischen Glanznummer, doch fand der Rezensent den Ausritt in das Reise- und Liebesleben des Regisseurs eher irritierend. Aber er gehört natürlich zum Konzept der Aufführung. Er ist gedacht als eine Parallele zur Liebesgeschichte von Josef und Helen.

Gleich auf mehreren Ebenen – und teilweise recht subtil – spiegelt Mican die Handlung aus dem Jahre 1942 in der Gegenwart. Da ist der Besuch der Schlachtfelder von Dünkirchen, die heute nur noch eine Touristenattraktion sind. Die Polizei verscheucht dort täglich die Flüchtlinge, die an der Kanalküste auf eine Gelegenheit zur Weiterreise nach Großbritannien warten, aber keine Visa bekommen. Es ist die frappierendste Parallele zu Helens und Josefs Fluchtgeschichte, aber sie kommt ganz beiläufig und unaufdringlich daher – das ist toll gemacht. Genial ist auch die Idee, den syrischen Musiker Wassim Mukdad aus der Band heraustreten zu lassen, die den Abend musikalisch begleitet: Josef ist besorgt wegen der bevorstehenden Trennung von Helen, die von unbestimmter Dauer sein wird. Der Syrer aus dem Jahre 2019 tröstet den Deutschen aus dem Jahre 1940. Auch er war auf seiner Flucht längere Zeit getrennt von seiner Geliebten, ohne dass dies der Beziehung geschadet hat. Da scheinen die Verhältnisse umgekehrt: Der Migrant beschwichtigt den Deutschen, und erneut zeigt die Inszenierung unaufdringlich, wie schnell sich die Verhältnisse von Macht und Ohnmacht, von Glück und Unglück umkehren können.

An der Seitenwand der Bühne „illustrieren“ die Videos von Benjamin Krieg die Fluchtgeschichte. Auch sie sind heutig: In Zeitlupe fährt ein Radfahrer auf einem Rennrad die Straße entlang; es geht endlos über Autobahnen; immer wieder sehen wir das Meer, auf dem auch schon einmal Surfer zu erkennen sind; Helens und Josefs Grenzübertritt wird durch Bilder von der heutigen französisch-schweizerischen Grenze angezeigt. Ganz zu Beginn gibt es ein Video und einen Text aus Wim Wenders‘ Film „Lisbon Story“ aus dem Jahre 1994. Wir folgen einer Europa-Reise, nur hat sich dieses Europa von 1942 bis 2019 mehrfach verändert: 1942 herrschte Krieg; 1994 konnte Wenders konstatieren, dass Europa zusammenwachse. Jetzt driftet es wohl wieder auseinander. Flüchtlinge stehen wieder an den Grenzen, und angesichts der Menschen, die in den Metro-Schächten von Paris vegetieren, spricht die Inszenierung bitter von der „Arabischen Republik Frankreich“.

Dimitrij Schaad irrlichtert durch die Aufführung wie eine Mischung aus TV-Moderator und Geschichtenerzähler. Er ist zuständig für den Humor, der in dieser dunklen Geschichte keineswegs zu kurz kommt. Seine Figur, die immer auch ein Teil seiner selbst als Geschichtenerzähler und Unterhaltungskünstler bleibt, legt er als häufig bramarbasierenden, oft unkonkreten und sich nicht festlegenden Typen an. Auch nach dem Tod seiner Frau flüchtet sein Josef sich in einen zwar verzweifelten, aber ziellosen Aktionismus. Anastasia Gubareva tritt als Helen nur in den echten Spielszenen auf. Sie drückt Ängste und Ärger, Glück und Unglück vor allem durch ihre Mimik aus. Helen ist in ihren Aussagen präzise, manchmal spitz und voller Ironie: Der ausdrucksstarke Wein, den Josef und Helen trinken, ist „niemand, der sich seiner Verantwortung entzieht“, stellt Helen fest. Es bleibt unausgesprochen, dass Josef – zumindest zu diesem Zeitpunkt – noch anders agiert.

Gubareva tritt immer wieder aus dem Spiel heraus und singt zur Begleitung der wunderbaren Kapelle die unterschiedlichsten Lieder – in Deutsch, in Russisch, in Französisch, in Portugiesisch – you name it, sie kann es. „Es ist ein Schnitter, heißt der Tod“, singt sie, als der Krieg sich abzeichnet, und wenn es heißt: „Heut‘ wetzt er das Messer, es geht schon viel besser“, denken wir an Hitler, Holocaust und Stalingrad. Als sie den Entschluss fasst zu sterben, ist es ein portugiesisches Lied, das sie intoniert. Eine wunderbare Atmosphäre von saudade bemächtigt sich des Raums. „Mein Geliebter“, sagt sie, „wir werden das gelobte Land, auf das du wartest, nicht zusammen sehen.“ Jetzt, ganz zum Schluss, geht die Geschichte auch zu Herzen, die die Inszenierung zuvor durch das gebrochene Spiel der Protagonisten emotional von uns fernhält. Auf dem Video bahnt sich ein Kleinlaster mühsam den Weg durch eine enge Lissabonner Gasse. Plötzlich löst sich das Auto auf – fading away, wie das Leben der unglücklichen Helen.