Mythobarbital – Fall of Titans im Theater im Pumpenhaus Münster

Rapunzel als nuttige Stummfilmschönheit

Es ist tiefdunkle Nacht. Zur schaurig-schönen Musik von Kreng vernimmt man das kurze Schluchzen einer Frau. Nah am Bühnenboden ist ein kleines, rechteckiges Licht die einzige Beleuchtung. Ein gruseliges Geräusch geht davon aus. Dann geht in Abattoir Fermés Aufführung von Mythobarbital das Bühnenlicht an, und man erkennt: Das kleine Licht und das gespenstische Geräusch gehörten zu einem Staubsauger. Unsinn, was sage ich! So prosaisch ist der Abend nicht im Münsteraner Theater im Pumpenhaus: Was aussieht wie ein Staubsauger, ist eher ein Ritter von der traurigen Gestalt.

Traurige Gestalten sind auch die drei Titanen. Erleben wir den Fall of Titans, wie das Stück im Untertitel heißt? Eher nicht, denn die Titanen sind längst gefallen. Als Untote geistern sie über die Bühne. Ihre Heimat ist eine spießige, etwas ärmliche Wohnlandschaft mit einer hässlichen grauen Wand hinter dem Sofa. Unendlich langsam sind ihre Bewegungen, unendlich starr ihre Gesichter. Die mythologischen Figuren haben Tranquilizer genommen: Barbital, das in vergangenen Zeiten, als noch Titanen auf dieser Erden lebten, die sich nicht auf Zähnefletschen und Torehüten beschränkten, als Schlafmittel benutzt wurde. Bei unsachgemäßer Dosierung, so kann man bei Wikipedia nachlesen, konnte Barbital zum Tode führen.

Aber vielleicht leben sie ja wirklich noch und sind einfach nur bis zum Gehtnichtmehr sediert. Ihr Einkaufswagen jedenfalls ist prall gefüllt. Chiel van Berkel kramt die Kanne einer Kaffeemaschine aus dem Trolley. Der Kaffee scheint sich in dem Wagen selbst gekocht zu haben. Aber ist es überhaupt Kaffee? Nachdem van Berkel einen Schluck davon genommen hat, sind Mund und Wange schwarz verschmiert wie von einer teerigen Masse. Vielleicht stand der Kaffee ja schon ein paar Tage bei laufender Maschine in der Kanne. Bei Untoten geht alles etwas langsamer.

Auch Katzenfutter findet sich im Einkaufswagen. Aus luftiger Höhe wird es in den Fressnapf geschüttet – viel zu lange, so dass auch dieser Behälter wie zuvor die Kaffeetasse bald überläuft. Bei der Katze hat die Dosierung des Barbitals definitiv nicht gestimmt. Oder ist ihr etwa Gewalt angetan worden? Kirsten Pieters holt das mumifizierte Haustier hinter den Sofakissen hervor. In Trauerkleidung geht es zu ihrer Beisetzung. Ihr Sarg ist ein Postpaket. Und er ist nicht der einzige: Auf dem Stapel in der Wohnküche, auf den das Paket mit der Leiche gelegt wird, liegen schon vier weitere, gleichartige Särge. Ein bisschen Speise fürs Jenseits haben die Titanen dem toten Tier immerhin mitgegeben. Es wird Asche gestreut, und um den Katzensargstapel werden kleine Topfblümchen dekoriert. So entsteht der Schrein der Katzen der Untoten.

Blumen werden auch um den Wohnzimmertisch drapiert. Der verwandelt sich jetzt in einen Sarg für eine weitere lebende Tote: Kirsten Pieters wird zu einem gespenstischen Schneewittchen. Chiel van Berkel küsst sie durch das Glas ihres Sarges – es ist der kalte Kuss einer Horrorfigur aus einem Splatterfilm. Doch Pieters erhebt sich – dass man nicht ihre Gelenke knarzen hört, ist verwunderlich. Auf schwarzem Samtkissen werden ihr sündig rote Schuhe gebracht – Schneewittchen mutiert zu Dorothy aus dem Zauberer von Oz. Sie hat das tragische Gesicht einer Stummfilmschönheit oder einer Hollywood-Diva aus den 1930ern – 1950ern. (Judy Garland als Dorothy sah irgendwie anders aus.) Als nuttiges Rapunzel lässt Pieters ihr rotgoldenes Haar hinunter. Ein Topf Milch wird über sie ausgeschüttet; von unten beginnt es zu dampfen. Droht Rapunzel nun gebraten zu werden? Und wollen die nun wieder angeworfenen (inzwischen drei) Staubsauger-Ritter sie retten? Van Berkel holt eine Axt …

Die hässliche graue Rückwand wird zu einer wunderschönen dreistufigen Stoffkulisse. Tine van den Wyngaert schlägt die Bodenplatten auf. Endlos, immer heftiger. Es ist anstrengend, nach und nach zieht sie sich vollständig aus. Welche Leichen haben die drei Untoten noch im Keller? – Keine: Zur nächsten Leiche wird – scheinbar – Tine van den Wyngaert. Erschöpft sinkt sie zu Boden, und van Berkel und Pieters überschütten sie mit Trauben und Theaterblut. Blutige Hände packen ins Fleisch. Wir imaginieren trashige Kannibalismus-Bilder. Doch während van Berkel und Pieters duschen, wird van den Wyngaert wieder wach. Der Vorhang geht auf; Stroboskoplicht in verschiedenen Farben flutet die Bühne. Die beiden Frauen liegen jetzt auf dem Lattenrost. Werden sie nun gegrillt? Van Berkel holt aus zu einem letzten Schlag in den Bühnenboden.

Kein einziges Wort fällt an diesem fünfundsiebzigminütigen Abend, dessen durchgängig morbide, manchmal rätselhafte Atmosphäre gefangen nimmt. Ist es auch Trash, so handelt es sich keinesfalls um kreischend zu bejohlenden Comic. Es sind eher rituelle Bilder, die wir sehen, unendlich verlangsamte und schon dadurch verzerrte Zitate aus Märchen und Horrorfilmen. Der Abend hat unendlich viel Humor, aber statt dass die skurrilen Ideen von Abattoir Fermé einfach weggelacht werden können, werden sie eingepackt in eine dichte, sogartige, alptraumhafte Atmosphäre. Die extrem verlangsamten Bewegungen der Performerinnen, ihre Blicke und die Musik haben geradezu hypnotische Wirkung. Die Zuschauer stehen unter einem geheimnisvollen Bann, dem sie sich nicht entziehen können. Die großartige Komposition von Kreng (Pepijn Caudron), die sich bei den Motiven alter Hollywood- und Horrorfilme zu bedienen scheint, ist die perfekte Untermalung dieses merkwürdigen, ungewöhnlichen, hinreißenden Theaterabends.