Siegeraffen im Ozean des Elends
Es soll ja auch heute noch einen König geben, der gern auf Einkaufstour für eine neue Kolonie gehen möchte. Vielleicht ist er übermütig, denn er liebt es, die Welt mit täglich neuen Kapriolen zu überraschen. Nicht immer sind seine Scherze geschmackvoll, aber häufig sind echte Schenkelklopfer darunter. So wie der mit der Kolonie: Der König pupste, und die ganze Welt lachte. Die Erschütterung durch das globale Gelächter führte sogar dazu, dass in Grönland ein Gletscher vom Festland abbrach und mit großem Getöse ins Meer plumpste. Der König aber war beleidigt, denn er wollte sich der Schätze bemächtigen, die in (oder unter) dem begehrten Land verborgen liegen mochten. „It will not happen“, sagte die freundliche Herrscherin über die begehrte Kolonie und feierte damit gleich einen zweifachen Erfolg: Die Bevölkerung fühlt sich in ihren Armen sicher, und ihr Land wurde vor dem drohenden Besuch des bösen Königs bewahrt, der schmollend in seiner selbstgewählten Isolation verblieb.
Der König, von dem diese Anekdote erzählt wird (wir möchten nicht glauben, dass es ihn tatsächlich gibt), nutzte halt nicht die Kanäle der Diplomatie. Er wäre sicher gern so ein Herrscher geworden wie der von 1865 – 1909 real existierende König Leopold II. von Belgien, der sich 1884 das rohstoffreichste Gebiet Afrikas als Privatstaat unter den Nagel riss. Das gelang ihm mit einer Mischung aus Bauernfänger-Tricks, krimineller Energie und diplomatischem Geschick. Mit dem Argument der notwendigen Sicherung der Handelsfreiheit rund um die Flüsse Kongo und Niger gelang es ihm, Frankreich und das Deutsche Reich davon zu überzeugen, eine Konferenz einzuberufen, bei der vierzehn fortschrittliche europäische Staaten den rückständigen und dreckigen Kontinent Afrika untereinander aufteilten – natürlich nur zum Schutz von dessen Bevölkerung, na, und eben für den freien Zugang zu Kautschuk und Elfenbein. Fassungslos berichtet der Schauspieler Daddy Moanda Kamono in Faustin Linyekulas Produktion Congo, dass es ausgerechnet der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck war, der die Kongo-Konferenz im Jahre 1884 einberief und moderierte – ein Mann, der über keinerlei Kolonialerfahrung und wenig Kenntnis der Materie verfügte. Leopold II. wusste solche Konstellationen zu nutzen.
Faustin Linyekulas Tanz- und Theater-Kompanie aus Kinsangani, der drittgrößten Stadt des Kongo, beschäftigt sich in vielen ihrer weltweit tourenden Produktionen mit der kolonialen Geschichte ihres Landes. Linyekulas neue Inszenierung befasst sich mit der Erzählung Congo des französischen Schriftstellers Éric Vuillard. Fast zwei Stunden lang spricht Daddy Kamono Vuillards Text - wörtlich, wenn auch um etwa 25 Prozent gekürzt. Er spricht forciert, mit lauter Stimme, aber stets im gleichen Tonfall. Agiert wird kaum; ab und zu wird Kamonos Redefluss unterbrochen durch zaghafte Tänze des Meisters Linyekula selbst oder durch Gesänge und beschwörende, in ihrem Stammes-Dialekt gesprochene Texte von Pasco Losanganya, die die Darstellerin aus ihren Kindheitserinnerungen zusammengeklaubt hat. Losanganya sorgt so für seltene magische Momente an einem Abend, der schnell langatmig wird. Man spürt den Akteuren aber die Dringlichkeit ihres Anliegens an, nämlich einer uninformierten Öffentlichkeit von den Verbrechen der Kolonialzeit, der entwürdigenden Fremdherrschaft und der Unterdrückung der eigenen (afrikanischen) Kultur zu erzählen.
Mit etwas gutem Willen könnte man die Aufführung in das Genre des Dokumentartheaters einreihen. Ausführlich – und leider mit vielen Redundanzen – wird von der Berliner Kongo-Konferenz erzählt. Vuillards Akten-Recherche war umfangreich – aber er wollte keinen dokumentarischen Roman schreiben. Der Autor erzähle „Weltgeschichte wie eine Zirkusclownposse“, schrieb die Süddeutsche Zeitung in einer Rezension seiner Erzählung. Er hat Sinn für überraschende Gegenüberstellungen und Zuspitzungen, stellt Gegenwartsbezüge her und bemüht sich nur bedingt um politische Korrektheit. Kamono aber stellt den Text wie ein Sachbuch vor; er vernachlässigt die Zwischentöne und die romanhaften Züge des Texts. Die Freiheiten, die sich Vuillard im Hinblick auf die Objektivität seiner Darstellung genommen hat, werden so zu Schwächen der Inszenierung. Natürlich muss einem Kongolesen der Kamm schwellen, wenn er in die Akten der Berlin-Konferenz schaut. Aber dass heutige Nachfahren der Familien ehemaliger Konferenz-Teilnehmer persönlich in Sippenhaft genommen werden, schadet der Glaubwürdigkeit der Anklage. Wenn Teilnehmer nicht aufgrund ihrer Handlungen, sondern aufgrund ihrer guten („schöntuerischen“) Manieren verurteilt werden, wirkt das in einem Sachbuch diffamierend, während es in einer Erzählung legitim sein mag. Sogar ein Monster wie König Leopold wird denunziert, wenn man seine – angeblichen oder tatsächlichen? - körperlichen Defizite anprangert, ohne sie in einen psychologischen Zusammenhang zu seinen Handlungen zu setzen. In Vuillards Erzählung dagegen erkennt man die Ironie, die Farce und die bewusste Regelverletzung.
Dennoch ist der Abend als Geschichtsstunde durchaus lehrreich: Wir erfahren von Henry Morton Stanley, der in den Jahren vor der Kongo-Konferenz im Auftrag Leopolds riesige Ländereien im Kongobecken erwarb und die lokalen Stammesfürsten mächtig übers Ohr haute: Auch die Arbeitskraft der auf dem erworbenen Grund und Boden ansässigen Menschen ging vertraglich in die Verfügungsgewalt des Königs über. Man arbeitete also offiziell an der Abschaffung der Sklaverei und schuf gleichzeitig neue Abhängigkeiten, die brutal genutzt wurden. Der Afrikaforscher und Expeditionsreisenden Charles Lemaire behandelte die einheimische Bevölkerung nicht weniger grausam und brandschatzte ganze Dörfer, bevor und während er als Statthalter Belgiens in Leopolds Privat-Kolonie die Ausbeutung der Kautschuk-Vorkommen des Landes organisierte. Vor allem aber lernen wir Lemaires Nachfolger Léon Fiévez kennen, der Minderleistungen oder Zuwiderhandlungen der einheimischen Arbeiter mit Erschießungen und Abhacken von Händen ahndete: Da sollen auch schon mal an einem einzigen Tag mehr als 1300 rechte Hände als Trophäen beim Stationsleiter abgeliefert worden sein. Léon Fiévez, so heißt es einmal, sei wahrscheinlich das Vorbild für den verrückt gewordenen Stationsleiter Kurtz aus Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ gewesen.
In einem etwas schief geratenen Bild heißt es zu Beginn, die Europäer seien „Siegeraffen im Ozean des Elends.“ Das setzt sich bis heute fort: Auch der Neokolonialismus der Koreaner, Chinesen und Europäer unserer Tage findet kritische Erwähnung. Jedoch fällt auch der Blick auf das Heute eher undifferenziert aus: Merkantilismus und Freihandel, Monopole, Korruption und harte Konkurrenz – die Wirtschaft ist böse, und alles wird in einen Topf geworfen. Ein Nachdenken über den alternativen Umgang miteinander, über die Sinnhaftigkeit von Entwicklungshilfe, über Hilfe zur Selbsthilfe, über die Möglichkeit eigener Initiativen findet weder in Vuillards Text noch in Linyekulas Inszenierung statt.
Erst in den letzten 30 Minuten gelangt die Aufführung zu der Intensität, die das Thema verlangt. Der Soundtrack wird vernehmlicher: Maschinengeräusche wie von Schiffsschrauben oder von Rotorblättern von Hubschraubern erklingen; Nebel und Rotlicht verfremden die Bühne. Wir hören die Geräusche des Urwalds. „Le Congo n’existe pas.“ – „Da ist nur ein Strom. Eine große Narbe, in der das Wasser fließt. … Den Kongo … es gibt ihn nicht mehr.“ Wir begreifen die Schmerzen über den Verlust des ursprünglichen Landes: eines Landes, das im Kolonialismus wirtschaftlich, kulturell und sozial brutal ausgebeutet wurde und dem das Selbstbewusstsein genommen wurde. Langsam beginnt seine Bevölkerung, sich selbst zu ermächtigen. Notizen aus dem Tagebuch von Lemaire werden vorgelesen. Schließlich sprechen Kamono in französischer Sprache und Losanganya in der Sprache ihres Volksstammes konfrontativ das Publikum an. Das Licht geht an im Parkett; auf einem Videoschirm werden Gesichter von verletzten, kranken und verstümmelten Kindern gezeigt. Endlich geht die Aufführung nahe.