(…..) im Maschinenhaus Essen

Der Rest ist fantasy

Der einundvierzigjährige Theatermacher Jetse Batelaan ist in den Niederlanden und um die Niederlande herum gerade schwer im Aufwind. Vor zwei Monaten erhielt er bei der Biennale in Venedig den Silbernen Löwen in der Kategorie Theater. Er bezeichnet das, was er inszeniert, als Jugendtheater. Auch seine jüngste Produktion, die zur Zeit bei der Ruhrtriennale gastiert, ist nach Angabe der Kompanie für Menschen ab 12 Jahren konzipiert. Aber Batelaans Theater spricht auch – vielleicht sogar vorrangig – Erwachsene an. Denn Batelaan inszeniert eigentlich … nichts. Das Nichts, mit nichts und mit wenig Action. Ob auch alle Jugendlichen den absurden Humor begreifen, der in seinen Stücken steckt, ist schwer zu beurteilen: Die Zuschauer der Aufführung, die der Autor dieser Zeilen besuchte, waren mit ein oder zwei Ausnahmen Erwachsene. Und die hatten mehrheitlich Spaß.

Zurückgenommener, weniger expressiv und undramatischer kann man gar nicht spielen als die drei Schauspieler dieses Abends. Zu kurzem Licht- und Schattenspiel und später nie wieder so dramatisch werdender Musik betreten die Bühne: die unendlich lange Willemijne Zevenhuijzen mit Bratsche oder Gitarre auf dem Rücken (wobei das Instrument im Laufe der Aufführung nicht die geringste Rolle und schon gar keine Musik spielt), ihre klein gewachsene Schulfreundin Carola Bärtschiger und der etwas dickliche Elias de Bruyne im grünen adidas-Trainingsanzug, der hinterm Vorhang mit dem Motorroller angebraust kommt. Er ist nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber wie die beiden anderen schrecklich sympathisch und schrecklich energielos. Carola, Willemijne und Elias sind, um es mit dem in diesem Zusammenhang in seiner Diktion völlig unpassenden Werner Schwab zu sagen, in die Welt gevögelt und können nicht fliegen: Menschen zu Beginn ihrer Pubertät, noch unsicher, suchend nach ihrem Platz im Leben. Aber was in den nächsten 70 Minuten mit ihnen geschieht, ist tatsächlich seltsam und kann einem jede Energie rauben, wenn es einen nicht in Panik versetzt. (Beides mag Pubertierenden ja ebenfalls widerfahren.) „Is this the real life, is this just fantasy“, fragen die drei Performer. Das heißt: Sie fragen gar nicht – weder der Song noch die Frage kommen in dem Stück vor -, aber sie agieren, als ob sie diese Frage hätten und sie ans Publikum weiterreichen wollten.

Der erste, der diese Frage provoziert, ist Elias. Sein schmatzendes Gesicht sieht im Dunkeln plötzlich aus wie ein Hologramm. Huch! Was haben wir jetzt gesehen, fragen auch die beiden Mädels: War es eine Halluzination? Bestimmt nicht, denn so schwierige Worte kommen im Sprachrepertoire der drei Youngster nicht vor. Jedenfalls ist es ist nicht (mehr) sichtbar, und in zweifacher Bedeutung des Wortes auch nicht zu fassen. Anders als die Frau Stocker. Das ist eine Lehrerin, und die Kinder haben sie gefragt: „Frau Stocker, was denken Sie, warum Sie hier sind?“ – Da hat die Frau Stocker geweint. Das verstehen die drei auf der Bühne nicht, aber wir, die wir ihnen zuschauen, erspüren ein wenig Tiefgang unter der Oberfläche absurder Kommunikation.

Aus einem Hustenanfall von Elias entwickelt sich das Geräusch eines stotternden Motors eines Mopeds entwickelt sich der Sound eines davonfliegenden Flugzeugs. Das weckt kein Fernweh, das weckt keinen Ärger über Lärmbelästigung – das weckt gar nichts. Es herrscht die Fortsetzung der Lethargie, das aber in aller Freundschaft und hochsympathisch. Elias entdeckt den Freundinnen, dass er „einen Track“ geschrieben habe. Was er singt, ist ein bisschen doof und ein bisschen bei Avril Lavigne geklaut: „They tried to look cool, and they looked like a fool…“. Wahre Worte, aber Carola, vielleicht die intelligenteste unter den dreien, ist mächtig beeindruckt. Sie hat noch so viele Fragen zu dem großartigen neuen „Track“, der ihr so viel zu denken aufgibt … - Die lieben netten jungen Menschen auf der Bühne persiflieren da das Geblubber von Studentinnen der PH Freiburg oder ähnlicher wegen der Ärmlichkeit ihrer Anforderungen renommierter Bildungsanstalten – aber sie zeigen auch die verzweifelte Suche Pubertierender nach einem wie auch immer gearteten Sinn des Lebens.

Aber Performer und Zuschauer erleben auch, wie Theater verändern und verzaubern kann. Es gibt eine merkwürdige Geschichte einer Nahtoderfahrung (eigentlich nur die Andeutung einer Geschichte) und Willemijne fragt irgendwann: „Bist du sicher, dass das alles hier da ist?“ Also doch: „Is this the real life, is this just fantasy?“. Schon seit einigen Minuten hatte uns der Verdacht beschlichen, dass die Schauspieler im Playback den Mund bewegten, ihre Stimmen aber aus dem Off kamen. Das wird jetzt immer deutlicher: Die Synchronität der Lippenbewegungen und der aus dem Lautsprecher kommenden Sprache lässt mehr und mehr nach; dann sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler plötzlich wechselweise mit den Stimmen der anderen. Auch ganz fremde Stimmen mischen sich darunter; schließlich geben die drei ein Knäcke-Kau-Konzert. Insbesondere von Carola tauchen Doppelgänger(innen) in unterschiedlichen Größen auf; hartnäckig werden falsche Farben für die Kleidung der Performerinnen und Performer behauptet. Und zu guter Letzt schafft die Lichtregie Verwirrung, indem sie die Farben von Carolas neuem Rucksack oder ihrer Kleidung immer wieder wechseln, aber nie in der Farbe erscheinen lässt, die gerade von Willemijne oder Elias behauptet wird. Apropos Willemijne: Sie wächst im wahrsten Sinne des Wortes über sich hinaus und wird noch länger als sie von Natur schon ist.

Das Geschehen wird immer absurder, doch ist das alles keine Zauberei, sondern im Entstehungsprozess durchschaubar. Es hat eine merkwürdige Poesie, zwingt den Zuschauer herunterzufahren und sich auf die im Grunde banalen, aber ungeheuer sympathischen Spielchen der drei langsam agierenden, sich während der gesamten 75 Minuten kaum von der Stelle rührenden Figuren einzulassen. Denn man kann die Aufführung auch als eine Philosophiestunde für Anfänger betrachten: Die drei reißen die 4. Wand ein: „Was macht ihr denn da?“, fragen sie überrascht. „Gucken?“ – Es ist der Moment der Erkenntnis: „Das ist, was jetzt ist.“ Theater eben. Gucken ist da real life, der Rest ist fantasy.