Geschichten vom Autobahnrastplatz
Waren Sie schon mal auf einem Autobahnrastplatz? Also für eine etwas längere Zeit als nur einen ganz natürlichen Entsorgungsvorgang für 70 Cent und vielleicht noch den zweifelhaften Genuss einer überteuerten Gulaschsuppe? Ich empfehle Ihnen: bleiben Sie mal länger an so einem Flecken. Ein paar Stunden vielleicht, vielleicht sogar noch länger… Da lernen Sie das Leben kennen, das echte Leben von Menschen, die Sie sonst wohl nie aus der Nähe kennen lernen würden. Und schon gar nicht deren bewegte Geschichte. Sie könnten auch in das Stück Letzte Ausfahrt rechts von Alexander Becker gehen, mit den Leuten vom TheaterX. Aber das ist leider schon „abgespielt“, wie man im Theaterjargon so sagt…
Also Autobahnrastplatz! Da ist natürlich das Personal der Frittenbude, in der Sie Schnitzel mit Pommes oder Brot mit Gurke und Knoblauch bekommen. Den Tresen ziert eine nicht mehr ganz so frische blassrosarote Rose. Ganz so frisch sind auch Lotte und Hille nicht mehr, die den Laden schmeißen - im Gegensatz zu Antara, die Köchin mit osteuropäischem Akzent, die Salamander und Friteuse zu ihren Lieblingsgeräten zählt. Wie sie auf dem Rastplatz gestrandet ist, wird später erzählt. Erst kommt ein Schlagersternchen auf dem Weg zu ihrem nächsten Auftritt, den eine Autopanne vereitelt. Zwangsstopp inmitten der Karpaten! Dann schubst eine resolute Zuhälterin zwei Bordsteinschwalben ins Geschäft, von dem die beiden allerdings noch wenig Ahnung zu haben scheinen. Schlecht für den Umsatz. Wenig später begegnet man zwei anderen Ladies auf ihrem Tripp in die Vergangenheit, sind sie sich doch vor dreißig Jahren begegnet, als es noch „hipp“ war, als TramperIn nach Amsterdam zu fahren, um dort gewisse bewusstseinserweiternde Erfahrungen zu machen. Ein paar Kekse haben sie auch diesmal wieder dabei - und schon entfalten sie ihre erhoffte Wirkung, es kommen wundersame Halluzinationen.
Natürlich gibt‘s auch Chefs in diesem Mikrokosmos namens Rastplatz: der Controller, der immer was zu mosern hat, der Hausmeister mit seinem Sauberkeitsfimmel. Und da ist da noch der übereifrige Volontär irgendeiner provinziellen Lokalzeitung auf der Suche nach einer tollen Story über interessante Orte. Nun ja, ihm liefert der Rastplatz jede Menge Futter. Zum Beispiel die schusselige Mutter, die ihren dreijährigen Sohn vergessen hat, nach der Pause rechtzeitig wieder ins Auto zu packen. Oder Sascha: der sucht sein Beziehungsglück in der Gay-Cruising-Area irgendwo hinter dem Dixie-Klo - und plaudert ganz locker darüber, wie es in der Szene so abgeht. Brutal wird‘s, wenn eine Schlepperbande unerlaubt Stopp macht und die im LKW Eingepferchten Sonnenlicht erblicken (dürfen). Zu diesen Geflüchteten zählte einst auch Köchin Antara - und sie hat es damals geschafft, sich zu verstecken und ein neues Leben in der Küche zu starten. Womöglich beginnt auch für Claire und Leonhard etwas Neues? Die Beiden treffen sich völlig zufällig auf der Picknick-Bank: sie verwitwet, er geschieden - beide mit Sympathien füreinander. Wenn das nichts wird…
Machen Sie mal Station auf so einem Rastplatz! Gut möglich, dass Sie dort auch auf diesen Konvent von Klosterschwestern treffen, die verzweifelt nach der Autobahnkapelle suchen, um ihre Mittagshore beten zu können. Oder auf die schrille Gruppe jener Aktivist*innen, die lautstark für Tempolimit, Fahrverbote und - ganz generell - für „Entschleunigung“ demonstrieren.
Stückautor und Regisseur Alexander Becker schildert realistische und skurrile Situationen, die oft witzig und höchst amüsant sind, die aber auch Momente des Innehaltens evozieren, zum Nachdenken anregen, die Schicksale nachvollziehbar werden lassen. Schicksale gescheiterter Existenzen, unerfüllte Lebensentwürfe, Visionen von Glück und erhoffter Liebe. Das wirkt authentisch. Zumal Alexander Becker mit den Akteur*innen des TheaterX ein ganz wunderbares Team zur Verfügung steht. Da wird gespielt auf hohem Niveau: Laien, die absolut begeisterungsfähig sind und begeisternd spielen, Darsteller*innen, die ihre ersten Schritte auf der Bühne erproben und solche, die schon einiges an Erfahrung mitbringen - eine gute, gesunde und generationenübergreifende Mischung, die überzeugt. Und im Fall von Letzte Ausfahrt rechts ist es auch noch eine echt kurzweilige, im besten Sinne nette Geschichte. Mal unterhaltsam, mal ganz schön melancholisch.
Zum Schluss ein „Happy End“ - natürlich. Ein prominenter italienischer Aktionskünstler hat sich just den Rastplatz ausgeguckt, um dort eine spektakuläre Installation zu inszenieren: eine „Fusione“, eine „Verschmelzung“. Und so bündelt sich das gesamte Bühnenpersonal zu einem einzigen Block aus Menschen ganz unterschiedlicher Couleur. Klare Botschaft: Wir alle gehören zusammen, ganz egal, wer wir sind und woher wir kommen.
P.S.: An den Profi-Häusern ist es üblich, gute Produktionen wieder aufzunehmen. Warum nicht auch mal beim TheaterX und mit Letzte Ausfahrt rechts?