Kleinbürger aus der Hölle
In anderen Inszenierungen läuft es einem kalt den Rücken hinunter, wenn Oskar seiner sich von ihm abwendenden Verlobten Marianne den wohl berühmtesten Satz aus Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald hinterherruft: „Du wirst meiner Liebe nicht entgehen!“ Bei Karin Henkel am Schauspielhaus Bochum ist es ein anderer Satz, der gruseln macht. Marianne zitiert ihn selbst; es ist nicht die einzige frauenfeindliche Weisheit ihres Vaters, des „Zauberkönigs“: „Die finanzielle Unabhängigkeit der Frau ist der erste Schritt zum Bolschewismus.“ Solche Überzeugungen sind in unserer heutigen Gesellschaft gottseidank selten geworden, aber die Dramen misslungener Emanzipation kennt der deutsche Alltag nach wie vor. Horváths Stück spielt im Jahre 1930, und wir wissen, wie sich seine Marianne ihre finanzielle Unabhängigkeit zu sichern versucht - später, als sie zwar Oskars Liebe zu entgehen versucht, aber stattdessen ihren nichtsnutzigen Geliebten und glücklosen Pferdewetter Alfred und ein uneheliches Kind durchziehen muss. Im „Etablissement international“ ist es aus mit „Mein Körper gehört mir“, wie Marianne zuvor einmal trotzig behauptet hat.
Es ist eine furchtbar bigotte Mischpoke, die Horvàths bitterböses Volksstück bevölkert. Bei Karin Henkel ist sie längst in der Hölle gelandet. Halbwegs ordentlich bestattet ist nur ein Kind, dessen Grab unauffällig auf Thilo Reuthers karger, aber düsterer Bühne platziert ist – Mariannes Kind, das sie später gebären wird. Ansonsten liegen Plastiksäcke herum. Es sind, wie wir bald lernen werden, Leichensäcke: Große Teile von Horváths Personal werden von den beiden „Gestalten“, wie sie im Programmheft nur genannt werden, von Thomas Anzenhofer und der in ihren Nebenrollen überzeugenden Gina Haller aus diesen Säcken herausgezogen. Aber auch eine tote Sau: Oskar hat schließlich einen Metzgerladen, und er sucht noch die richtige Metzgerin. Nach der Pause wird auch die Frage beantwortet, wieweit sich Horváths Männergesellschaft noch von Schweinen unterscheidet: Im „Etablissement international“ tritt Marina Galic mit Schweinemaske auf, und alle Männer sind hinter der Frau im durchsichtigen Ganzkörperkostüm her - auf der „Jagd nach dem Glück“, wie die Nachtclub-Moderatorin Gina Haller ihre Show anpreist. Marianne aber bewegt sich wie eine Balletttänzerin. Sie mag traurig sein, sie mag als Nachtclub-Nutte arbeiten, aber sie behält die Contenance und achtet auf Stil. Wer hier die Schweine sind, muss nicht lange hinterfragt werden.
Karin Henkels Inszenierung steckt voller kleiner Zeichen. Marianne, von den Toten auferweckt, singt: „Es kam einst gezogen ein Bursch ganz allein…“; der spätere Hallodri Alfred taucht auf, und Marianne versinkt in der Hölle. Auf einer kleinen rotierenden Scheibe dreht sie hinunter in den Unterboden. Wieder aufgetaucht, finden wir sie erneut auf einem kleinen Podest – starr, puppengleich wie Olympia in Hoffmanns „Sandmann“. Wie eine Puppe mit programmierter Sprachfunktion plappert sie im Geschäft ihres Vaters, der eine Puppenklinik und einen Kuriositätenladen besitzt,. Acht gleichgekleidete Mariannen im Glockenrock-Kleid entsteigen der Metzgermeister-Kühltruhe und vollführen ein Tänzchen – Mädchen, austauschbar, aus dem Blickwinkel der Männer ohne eigenständige Persönlichkeit. Immerhin wirken sie adrett – Mariannes Vater lungert derweil in Unterwäsche herum. Als Alfred auftaucht, versteckt sich Marianne hinter einem in Vaters Laden zum Verkauf stehenden menschlichen Skelett, das ein Schild mit der Aufschrift „zu verkaufen“ in der knochigen Hand trägt: Tatsächlich wird die junge Frau später bereits sein, sich zu verkaufen, um Oskars Liebe zu entgehen. Immer wieder betreten Schauspieler die Bühne zu ihren Auftritten die Bühne durch einen schwarzen Vorhang, auf den ein Totenschädel eingearbeitet ist. Das Tor zum Bühnenleben ist das Nasenloch des Totenschädels. Und gegen Ende fährt die gesamte unglückliche Gesellschaft wieder zur Hölle – auf der gleichen kleinen Drehscheibe wie Marianne zu Beginn. Kein Zweifel: Karin Henkel hat Horváths Kleinbürgerhölle wörtlich genommen.
Totenköpfe waren ja auch Symbole der Nationalsozialisten – vor allem aber bei den Mitgliedern der SS-Totenkopfverbände, die u. a. den größten Teil der Wachmannschaften in den KZs stellten. Marius Huth gibt den jungen Nationalsozialisten Erich im Braunhemd und mit kurzen Hosen wie einen braven Hitlerjungen; gelegentlich macht er Schießübungen, die die Gefährlichkeit der unkontrollierten Faxen pubertierender Jungs ausstrahlen. Wir erinnern uns: Noch ist im Jahre 1930 der Nationalsozialismus in den Kinderschuhen. Aber wenn nicht alles täuscht, hat Erich in Karin Henkels Inszenierung eine überdurchschnittlich hohe Bühnenpräsenz, die den Subtext von Horváths Stück, der in vielen anderen Inszenierungen zu kurz kommt, nicht vergessen lässt. Die Warnung vor aufkommenden rechten Tendenzen streut Karin Henkel ohnehin auf subtile Weise ein: Im Nachtclub preist Gina Haller ihre internationalen Girls an, aber Erich sucht nach der reinrassigen Wienerin: Er verfolgt selbst in der Erotik den Heimatgedanken, den die AfD in ihrem Theater- und Kulturprogramm verankern möchte. Und in einer der intensivsten Szenen des Abends, kurz vor der Pause, als alle Figuren im Theaternebel Kernsätze ihrer Charaktere wiederholen oder auch neu formulieren, heißt es bei Erich: „Sturm, brich los!“. Und der Zauberkönig erkennt: „Europa muss sich schon einigen.“ Beim nächsten Krieg, so meint er, drohe der endgültige Untergang. Wo er Recht hat, hat er Recht, der dumpfe Stammtischbruder. Fragt sich nur, welche Art von Einigung er sich vorstellt.
Karin Henkels Zeichensprache, ihre Stilisierungen und ihre sparsamen, aber wirkungsvollen Ergänzungen des Texts, aber auch Lars Wittershagens Soundtrack könnten aus der Inszenierung einen großen Abend machen. Leider jedoch bleiben die meisten Schauspieler merkwürdig blass. Wie schade, dass Marius Huth, der doch offensichtlich die politische Botschaft des Abends transportieren soll, so harmlos und wenig dämonisch wirkt. Ulvi Teke als Alfred bleibt ebenfalls ein Bubi ohne die strizzihafte Aasigkeit, die wir von diesem Hallodri erwarten. Dass er, kaum ist das mit Marianne gezeugte Kind geboren, das Macho-Gehabe anzunehmen versucht, das Marianne von Oskar und ihrem Vater kennt, wirkt bei dem harmlosen Jüngling kaum glaubhaft. Die Bösartigkeit der Großmutter, die Bigotterie von Oskar (bei Mourad Baaiz ein nicht völlig unsympathischer Melancholiker) und dem Zauberkönig – sie alle werden in der stilisierenden Inszenierung von Henkel unterspielt, so dass kaum eine der Figuren berührt und Horváths vielleicht stärkstes Stück merkwürdig steril bleibt. Dabei schwebt das Baby, kaum dass es geboren ist, als bewegungsloses Bündel am Haken über der Szenerie wie ein Sinnbild der Kaltherzigkeit dieser Gesellschaft.
Nur Marina Galic kann überzeugen. Ihre Marianne ist eine ungewöhnlich reife Frau, älter als ihre Verehrer Alfred und Oskar, einfach wie von Horváth vorgesehen, aber nicht ohne Stolz. Stoisch lässt sie alles Unglück über sich ergehen, fügt sich in ihr Schicksal und schämt sich nicht – weder für ihre entwürdigende Arbeit im Nachtclub noch für den nichtsnutzigen Vater ihres Kindes. Sie ist eine herbe Marianne, eine starke schwache Frau. Wenn irgendeine Marianne das Potential zur Emanzipation hat, dann diese. Doch auch sie wird Oskars Liebe nicht entgehen. Was anfangs wie eine Drohung klang, nimmt Karin Henkel als Bedrohung ernst: Oskar würgt Marianne fast zu Tode und schleppt sie bewusstlos in seine Hütte. Was für eine Hölle!