Das Opfer der Prekariats-Iphy
Das Stück passt zu Oberhausen wie Topf auf Deckel. Die einstmals reiche Industriestadt ist verarmt, die Innenstadt ausgelaugt und tot, seit das Einkaufszentrum CENTRO am Stadtrand mit sterilem Working Class Chic sämtliche Kaufkraft aus der näheren und weiteren Umgebung abschöpft. Tankstellen ersetzen der Jugend die Champs-Èlysées; Supermarkt-Parkplätze, auf denen junge Leute ihre aufgemotzten Schrottkisten ab und zu aufheulen lassen und dann eine sinnlose Runde drehen, werden nach Geschäftsschluss zu unwirtlichen Orten, die man besser meidet. Die Spielstätte von Ariane Kareevs Off-Off-Inszenierung ist ein verloren wirkendes einzelnes Hochhaus in einer hässlichen, gesichtslosen Gegend. Freudlos wirkt hier die Stadt, in der der Schreiber dieser Zeilen immerhin vor dreißig Jahren die Freuden großer Liebe erlebte…
Wir sitzen auf planlos in den Raum verteilten Hockern im Erdgeschoss des Hochhauses und merken auf: Da wütet jemand im Nachbarzimmer, lässt Brocken fallen, wirft vielleicht sogar mit Möbeln, wer weiß das schon? Und dann steht sie vor uns, herausfordernd, rotzig, mit unterschwelliger Aggressivität: „Tach!“ Etwas zu weite schwarze Sporthose, rosa Käppi unterm schwarzen Hoodie, auf dessen Ärmeln in großen weißen Lettern zu lesen ist: „NEVER EXPECT“: Iphy ist ein wahres Riot Girl, morgens um halb elf torkelt sie schon besoffen durch die Stadt und seht sich nach drei Tagen Kater. Never expect anything from people like her – aber sie selbst weiß, dass auch sie vom Leben nichts zu erwarten hat. Früher, sagt Omma, früher haben wir mal gelebt. „Man konnte hier gut leben.“ Oberhausen halt. Auch da konnte man früher gut leben, und in Splott vielleicht auch, dem Arbeitervorort von Cardiff, in dem der walisische Autor Gary Owen sein heftig akklamiertes Monolog-Stück Iphigenia in Splott angesiedelt hat, dem Judith Humers Textfassung des Oberhausener Abends sehr eng folgt.
Iphy hat einen Freund – Saufkumpan, Fickgenosse und später auch Drogenlieferant. Er hat „Arme wie Schenkel und Schenkel wie Pommes.“- „Warum gehe ich mit dem aus?“, fragt sich Iphy. Ganz einfach: Was Besseres kriegt man als alkoholkrankes Riot Girl aus dem Prekariat meistens nicht. (So ganz herzlos ist der „Schwanz“ allerdings nicht, wie wir später noch hören werden.) Doch dann geht Iphy mit ihrer Mitbewohnerin Leanne (einer echten „Kriegerin“, wie sie anerkennend sagt) zum Tanz – und landet im Bett mit einem sympathischen Soldaten, dem von einer Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtung das halbe Bein weggesprengt wurde. Als sie das entdeckt, ist es zu spät: Da ist sie schon verliebt. Und zeigt eine neue Seite von sich: die zärtliche, fürsorgliche Iphy.
Am nächsten Tag bleibt Iphy nüchtern und träumt von der großen Liebe. Bloß Lee meldet sich nicht mehr. „Gefickt und abserviert“ – das kann nicht sein, denkt Iphy. Doch so ist es: Lee ist verheiratet. Und Iphy schwanger. Abtreibung? Denk an das viele Kindergeld, rät Leanne: „Ein Kind ist ein verdammter Essenskupon!“ Doch es sind andere Gründe, warum sich Iphy entscheidet, das Kind bekommen zu wollen: Mit Baby im Bauch fühlt sie sich nicht mehr so allein. Auch erweist sich die Solidarität des Prekariats: Der Freund hilft, obwohl er nicht der Vater ist, die als „rotzende alte Schachtel“ beschimpfte Omma geht wieder arbeiten, um Iphy zu unterstützen. Doch natürlich steht der Kulminationspunkt des Stückes noch bevor. Es wird eine spannende, erschütternde Geschichte, wie sie sich so in Oberhausen vielleicht doch nicht zutragen würde. Trotz einer gewissen Skepsis folgen wir der Handlung atemlos, zumal wir gehört haben, dass dem Autor des Stückes ebendiese Geschichte beinahe selbst passiert wäre. Iphy trifft am Ende eine große Entscheidung. Sie bringt ein Opfer, so wie ihre antike Vorgängerin, die mehr oder weniger freiwillig auf dem Altar der Artemis geopfert wurde (und letztlich doch entkam). Das Opfer der „Iphy in Oberhausen“ ist nicht ganz so monumental wie das der „Iphigenie in Aulis“, aber wir verstehen nun, warum sie uns alle zu Beginn so rotzig angemacht hatte. Jeder einzelne von uns stehe in ihrer Schuld, hatte das besoffene Weib uns entgegengeschleudert. Na ja, vielleicht hatte sie Recht.
Hand aufs Herz: Die Analogien zum griechischen Mythos hätte der Dramatiker sich schenken können und seine Iphy besser Schantalle genannt. Die beiden „Opfer“ miteinander zu vergleichen, scheint etwas weit hergeholt, und die im Programmzettel aufgeworfene Frage, inwieweit Iphigenies Mädchenopfer tatsächlich dem Allgemeinwohl zugutegekommen ist, nachdem der darauffolgende Trojanische Krieg doch Tausende von Toten gefordert habe, trägt eher zur Verwirrung bei. Nützt Iphys Opfer aus den 2010er Jahren dem Allgemeinwohl oder ist es nicht eigentlich nur eine große, naive Geste? Und wie weit hergeholt ist erst die Interpretation mancher Literaturkritiker, die in der Figur des Lee Spurenelemente des antiken Achilles gefunden haben wollen?
Lassen wir das, denn Gary Owen selbst hat längst konstatiert, dass beim Schreiben des Stücks der antike Mythos immer mehr in den Hintergrund getreten ist und sich schließlich nahezu vollständig verflüchtigt hat. Sein Stück ist gedacht als eine große Anklage der Austeritätspolitik in kapitalistischen Gesellschaften und eine Aufforderung an den Staat, mehr Verantwortung zu übernehmen. Es klingt ein wenig nach Wut über den Thatcherismus, der ja tatsächlich in der britischen Gesellschaft heute noch deutlich identifizierbare Spuren hinterlassen hat. Anzeichen, dass sich auch die deutsche Gesellschaft zumindest partiell in eine solche Richtung entwickelt, sind nicht zu übersehen, und wie eingangs erwähnt, passt das Stück zu Oberhausen wie für diese Stadt geschrieben. Für das Gelingen eines großartigen, spannenden Theaterabends ist aber vor allem die furiose Performance von Sina Ebell verantwortlich. Rotzig und frech macht sie das Publikum an, wütend haut sie mit Trommelstöcken auf dem an der Kopfseite des kleinen Raumes platzierte Schlagzeug oder auf den Wänden des Zimmers herum, aggressiv und sozial unangepasst wettert sie über ihre Mitbürger, denen es nur minimal besser geht als ihr – aber sie zeigt auch die weiche, sehnsuchtsvolle Seite ihrer Figur, ihre Verwundbarkeit, ihre Träume und gleichzeitig ihre Erdung in der Realität. Berührend, fast poetisch schildert sie den stundenlangen Sex mit Lee – den einzigen Moment, in dem sie an so etwas wie unbeschwertes Glück glauben kann. Langer, verdienter Applaus am Premierenabend.