Übrigens …

Das Dschungelbuch im Schauspielhaus Düsseldorf

Die Zurückeroberung der Kindheit

Der Vorhang vor der großen Bühne ist buntgescheckt: blau-rot-gelbe Stofffetzen bilden ein buntes Chaos, auf dem mit riesigen Leuchtbuchstaben JUNGLE glitzert. Wer jedoch glaubt, das sei die Einstimmung auf zu erwartende Bilder eines wildwuchernden Dschungels, in dem Das Dschungelbuch spielt, wird enttäuscht. Es bleibt das einzige chaotische Bild des Abends. Der große texanische Figuren-, Wort- und Lichtkünstler Robert Wilson wird die Geschichte vom Menschenkind, das im Dschungel aufwächst und sich in die Menschenwelt zurücksehnt, vor zartfarbenem, fast transparentem Hintergrund mit viel dunklen Schattenfiguren und Scherenschnitt-Effekten erzählen.

Doch vorerst trippelt nur ein Wesen mit weißgeschminktem Gesicht und riesigen Elefantenohren im üppig-weißen Rüschengewand und schwarzen Lackschühchen vor den Vorhang, stellt sich als Hathi, der indische Elefant, vor und führt uns vergnügt in die Geschichte vom kleinen Findelkind Mowgli ein, das den Tieren zu sehr Mensch und den Menschen zu sehr Tier war. Dabei ruft sie eine Figur nach der anderen vor den Vorhang, so dass wir sie alle kennenlernen, bevor das Spiel beginnt:

Kaa, die zischende Pythonschlange mit weißgeschminktem Menschenkopf über schmalem schwarzen Anzug, den riesigen Schlangenkopf lässig unter dem Arm (Thomas Wittmann). Ihm wird vom Dschungel-Manager Wilson nur eine Rolle am Rande des Geschehens zugebilligt ; Dann das händchenhaltende Wolfspärchen Akela und Raksha, ganz menschlich in Blitz-Muster-Hemden und Jeansanzug, nur die struppigen Plüschöhrchen verweisen auf ihre tierische Rolle (Judith Bohle und Ron Iyamu)-

Dann tänzelt auf High Heels im eleganten Smoking mit Glitzerapplikationen und endlos langem Schwanz, dessen Ende ein flimmerndes Mikro bildet, Bagheera, der geschmeidige schwarze Panther (virtuos: André Kaczmarczyk) an den Bühnenrand und berichtet schon hier im Prolog mit melancholischem Augenaufschlag und resignierender, sich windender Pose von seinem Schicksal unter den Menschen, die ihn gefangen nahmen und in einen Käfig sperrten, dem er jedoch endlich entkam. Gutgelaunt mit Clownsgesicht und Pelzohren erscheint der tapsige Bär Baloo im schlabberigen, rotkarierten Anzug über dem Shirt mit riesiger blauer Sonne auf dem überdimensionalen Bärenbauch. Wenn er später mit dem Einkaufswagen über die Bühne schieben wird, erscheint er eher als leibhaftiger Menschen-Clochard, denn als Lehrer für das Menschenkind - der Rolle, die ihm die Tiere zugedacht haben. (Herzerwärmend gegeben von Georgios Tsivanoglou, Gast und Wilson-Kenner aus Berlin.)

Dann folgen die beiden Bösen: in einer Nebenrolle der intrigante Schakal Tabaqui, als einziger mit Tierkopf, in engem schwarzen Trikot (Felicia Chin-Malenski).

In einer Hauptrolle hingegen der menschenfeindliche Königstiger Shere Khan, dem Sebastian Tessenow so gar nichts Bedrohliches abgewinnt. Er gibt ihn vielmehr eher schlaksig als coolen Gangsterboss vergangener Tage in orangem Seidenhemd unter tigergemustertem Anzug.

Last but not least tritt – von vorauseilendem Beifall begrüßt – der Held der Show, das Menschenkind Mowgli (Cennet Rüya Voß) vor den Vorhang. In locker hängenden, knallroten Shorts und kurzärmeligem T-Shirt könnte es Junge oder Mädchen sein, das da mit weit aufgerissenen Augen unter überlangen schwarzen Wimpern in den Saal schaut. Um ihn herum stehen sie nun aufgereiht und starren ihn an, die Tiere des Dschungels, und wirken doch eher wie vom Bühnenzauberer Wilson urbanisierte Kunst-Wesen, die diverse menschlicheTypen oder stilisierte Charaktere verkörpern.

Der Vorhang geht auf und die erste Seite eines virtuosen Bilderbuchs wird aufgeschlagen. Revueartig in äußerster Präzision mit teils grandiosen Bildern blättert die Inszenierung die einzelnen Geschichten des 1894 erschienenen Dschungelbuches vor uns auf.

Die erste Szene bebildert den Dschungel in strengster Abstraktion durch riesige Blatt-Silhouetten, die wie Tennisschläger über die Bühnenwand schweben und durch übermannshohe, lanzenartige Gräser, die auch mal rot aufstrahlen können. Vorne am Bühnenrand steht ein Körbchen aus großen grünen Plastik-Blättern, in denen verloren eine Babypuppe liegt. „Wie klein, wie nackt und wie mutig“, tönt es dazu aus dem Off. Schüsse knallen, Stimmengewirr, dazwischen Mama-Mama-Rufe. Dann Vogelgezwitscher aus dem Orchestergraben. Von dort werden fünf Musiker der CocoRosie-Band die Aufführung mit buntgemischten, Kreationen des Folk-Rock-Duos Bianca und Sierra Casady begleiten. Neben vierzehn Songs (die Texte findet man im Programmheft, allerdings auf Englisch ohne Übersetzung) schwirrt in ihrer Komposition alles Mögliche durcheinander: von Rock, Pop und Jazz bis Opern-und Kindermusik mischt sich alles zum surrealen, akustischen Dschungel-Background. Dazu posieren die Figuren in Wilson-Manier in streng gestikulierenden, oft zeitlupenhaften Bewegungen, die plötzlich zu erstarrten Posen gefrieren können. Neben solchen theatralischen, gelegentlich ironischen Szenen stehen auch zutiefst berührende und psychologisch erhellende, so die Auseinandersetzung zwischen Baloo, dem Bären, der mit plumpen, raumgreifenden Lehrerattitüden glaubt, dem hilflosen Menschenkind die Regeln des Dschungels beibringen zu müssen, und dem pfiffigen Mowgli, der zunächst brav und gelangweilt an seinem Pult hockt, dann aber seine menschliche Überlegenheit erspürt und diese in einem faszinierenden Bild demonstriert: das vor ihm liegende Buch blättert sich fächerförmig auf, wächst zu einem glutroten Strahlenkranz, der zugleich die Rote Blume als auch das Feuer symbolisiert, Mächte, über die nur der Mensch gebietet. Letztendlich ist es auch die Erkenntnis dieser Andersartigkeit, das Bewusstsein - trotz aller Nähe zu den Tieren und Vertrautheit mit der Dschungelnatur, trotz der Geborgenheit in der schützenden Bärenfamilie– trotz allem im Innersten ein Mensch unter Menschen sein zu wollen.

Dabei wird die Menschen-Welt keineswegs in Sehnsuchtsbildern dargestellt. Vielmehr schafft Wilson als Background einer wichtigen Entscheidung ein deprimierendes, postzivilisatorisches Szenarium aus Elektromüll, aus zum Schrottberg gestapelten, ausrangierten Fernsehgeräten und Computern. Gespenstisch indirekt beleuchtet, wirkt es wie eine ausrangierte, verschrottete Nam-June-Paik-Installation, auf der die Dschungeltiere herumklettern und beschließen, das Findelkind einer solchen Welt nicht zu überlassen.

Auch die Menschenwelt, in die Mowgli am Ende der ersten Szene zurückkehrt, ist zutiefst bedrückend: eine fast leere, fahle Bühne mit einer riesigen Fernsehantenne, vorne eine Bank, auf der zwei Menschen hocken und auf einen Fernseher ohne Bild starren. Die Frau in puritanischem Aufzug mit weißem Häubchen und bodenlangem dunklen Kleid, der Mann in kolonialzeitlichem Jägeranzug mit Flinte über die Schulter.

Hier wird das Stück zur Coming –of-Age-Geschichte: Mowgli kann diese Pflegemutter, diese Welt, in der man ihn mit Steinen bewirft, nicht akzeptieren, kehrt zurück in den Dschungel, besiegt dort zwar den Königstiger mit der Kraft „Menschlicher Autorität“, doch dieser Sieg kann auf der Bühne nicht überzeugen. Der ausgestreckte kindliche Arm, der den körperlich überlegenen Gegner hinstreckt, ist als Geste zu schwach, belegt keine geistige Überlegenheit.

Die Bilder der zweiten und dritten Szene erreichen nicht immer die Intensität des ersten Teils, allerdings sind die Erwartungen an den Bühnenvisionär Wilson auch hochgeschraubt. Interessant ist allerdings der autobiografische Hintergrund dieser Auseinandersetzung: Rudyard Kipling, 1865 in Bombay geboren, erlebte als Kind in Indien pures Tropenglück, bevor man ihn fünfjährig zur ordentlichen Schulbildung zu einer puritanischen, autoritären Pflegefamilie ins dunkle England schickte. Zwanzig Jahre später komponierte er aus seinen Erfahrungen eine lockere Folge von Geschichten und Gedichten, sein erfolgreichstes Werk: Das Dschungelbuch. An das hält sich Robert Wilson. Er gräbt nicht tiefer, fragt nicht nach Kolonialgeschichte oder Regenwaldproblematik. Er bringt das Erwachsenwerden in kunstvollen Bildern auf die Bühne.

Mowgli lief los, ohne zu wissen wohin. Er spürte in sich ein neues Herz schlagen“, verrät uns Hathi, der indische Elefant, während im Schlussbild die Silhouetten der Dschungelbewohner noch einmal ganz bedächtig als Schattenprozession über die Bühne ziehen und gemeinsam das Gesetz des Dschungels beschwören: „ Now, this is the Law oft the Jungle, as old and as true as the sky“.

Bei tosendem Applaus gab’s eine Zugabe: das Ensemble sang noch einmal das Schlusslied, wiederholte mehrfach den Refrain, in den der Saal mit rhythmischem Klatschen und Standing Ovation einstimmte.