Das geheimnisvolle Puppen-Leben des Vernon Subutex
Wie bringt man einen Roman überzeugend auf die Bühne? Wie erst eine Trilogie von 1200 Seiten? Den Kölner Hausregisseur Moritz Sostmann hat es gereizt, eine (mittlerweile dritte) dramatische Version des Romans der französischen Autorin Virginie Despentes auf die Breitwand-Spielfläche des Kölner Schauspiel-Depots zu versetzen. Sostmanns stilistischer Vorteil ist es, wie immer bei ihm, die Rollen doppelt zu besetzen – mit lebendigen Schauspielern und ihren lebensecht wirkenden Puppen-Alter-Egos. Dabei entsteht eine ganz eigene Welt, die sowohl Distanz wie besondere Reize bietet. Zumal diese Puppen, obwohl nur etwa halb so groß wie ihre „Originale“, über alle Maßen realistisch wirken.
So auch dieses Mal. Bei der Herkules-Arbeit, Das Leben des Vernon Subutex ins Bild zu setzen. Die Trilogie der fünfzigjährigen Französin Virginie Despentes (ein Pseudonym, bürgerlich Daget), die es von der Skandal-Autorin des Romans Baise-moi, Fick mich, von 1993 zur Literatur-Preisträgerin und schließlich sogar in die „Academie Goncourt“ geschafft hat. Eben und vor allem dank ihrer „Vernon“-Trilogie, die zwischen 2015 und 2017 entstanden ist.
Es ist eine äußerst bizarre, hin- und herflatternde, nie so ganz in den Griff zu kriegende Story. Vernon Subutex ist der Held der Trilogie, aber auch der Getriebene in der von Eberhard Petschinka erarbeiteten Kölner Theater-Fassung. Eine fünfundzwanzigjährige Plattenhändler-Vergangenheit hat er hinter sich, um im Jetzt als Clochard durch Paris zu streunen, besser: erst durch die Betten einer vermeintlich besseren Gesellschaft, schließlich an der Seite von Clochards. Seine Ex-Kollegin Emilie, einst rotziges Punk-Girl, hat sich zur Fanatikerin der Ordnung gewandelt. Xavier ist nach wie vor erfolgloser Drehbuchautor. An die Ehe gefesselt, wird er zum alles niedermachenden Wutbürger, der gar nicht so schnell reden kann, wie er kotzen möchte. Dass da nicht nur von Ferne die Karikatur winkt, lässt die Menschen hinter den Wortkaskaden des Hasses fast verloren gehen. Wie auch die dem Sex völlig verfallene Jounalistin Lydia Bazooka, an deren Unterschenkel sich eine geile Männerpuppe bis zum Orgasmus hochjubelt.
Es geht aber auch sonst auf- und abwärts. Vom Aussteiger und durch alle möglichen Betten gegangenen Underdog wird Vernon schließlich zum gefeierten DJ-Star. Als Ex-Plattenhändler kennt er das Geschäft. Dass am Ende sein Puppen-Alter-Ego, gekreuzigt auf einer Riesen-Schallplatte, wie ein Christus-Ersatz im Hintergrund verschwindet, ist eine der eindrucksvollsten Szenen des Abends.
Zu dieser Zeit hat sich das Katastrophen-Szenario der ersten Hälfte freilich längst in Bilder der Hoffnung verwandelt: Die Menschen, die sich zuvor im ideologischen und moralisch-ethischen Wettkampf gegenseitig mies machten, stehen nun zusammen. Und das im Wortsinn – in einer sich selbst feiernden Gruppe.
Breit ist die Bühne. Ihr kastenförmiger Rahmen und der Schacht dahinter, in dem die Personen immer wieder einmal verschwinden und auch wieder auftauchen, erinnert an ein Kasperletheater. In Köln an die “Britz“ genannte „Bühne“ des urkölnischen „Hänneschen-Theaters“. Doch weder Bärbelchen noch Hänneschen, schon gar nicht Tünnes und Schäl haben hier im Vernon das Sagen. Die Puppen in Sostmanns Theater- Version haben längst ihre Naivität verloren. Sie sind abgetaucht. Untergetaucht worden von einer arroganten und geldgeilen Umwelt. Mit dem Ergebnis, dass Extremismus gedeiht und Furore macht. Es ist ein politischer, in dieser Inszenierung vor allem aber auch ein moralisch menschlicher Niedergang. Brutal ist diese Welt, kapitalistisch, sexbesessen. Das macht vor allem wütend auf „die da oben“.
So gerät vor allem der Teil vor der Pause zu einer nicht selten quälerisch-aggressiven, oft auch nervtötenden Brüllerei.„Scheiße“ wird dutzendfach gegrölt, „vögeln“ und „ficken“, verquirlt mit Hass auf Frauen wie Männer, zum ebenso öden wie zunehmend langweilig wirkenden Vokabular.
Doch nach dem Zerfleddern der zahllosen, oft auch parallel verlaufenden Handlungsstränge vor der Pause, schnurrt die Inszenierung unvermittelt zu einer nun fassbaren Struktur zusammen. Aus den Underdogs werden, oh Wunder, unversehens Freunde, die zusammenstehen. Und während Vernons Puppen-Ego, wie Christus auf einer Schellack-Platte gekreuzigt, allmählich im Halbdunkel der Bühne verschwindet, verlassen auch die Schauspieler die Spielfläche und nähern sich uns, den Zuschauern. Wie in einer rituellen Handlung legen sie uns die Hand auf - wie zum Segen. Man könnte das peinlich nennen. Dem Kitsch ist es jedenfalls mehr als nahe.
Ist denn nun alles wieder gut? Wohl kaum, trotz dieses happyendenden „Schluss-Bildes“. Derweil sind die Puppen längst hinter der Britz verschwunden. Schade, haben doch gerade sie den Abend, vor allem nach dem recht enervierenden ersten Teil, auf Niveau gehalten. Denn trotz einiger schöner, ja sogar mitreißender Szenen zwischen den Puppen und ihren realen Alter Egos: Die Geschichte dahinter hält längst nicht das, weshalb die Autorin so hochgejubelt wurde.