Beklemmung im Internierungszelt
Es gibt zwei Kernsätze in dieser Inszenierung, die wieder und wieder in die Erzählung eingeflochten werden. Der eine lautet: „Ein Chronist hat nur die Aufgabe zu sagen: Das ist geschehen.“ Und der andere: „Man muss die Dinge beim Namen nennen.“ Am Ende, als die Pest besiegt, aber der größte Teil der Stadtbevölkerung verstorben ist, als die Krankheit so schnell verschwindet wie sie gekommen ist und die Stadt ein Fest feiert, prognostiziert Dr. Rieux, dass sie wiederkommen werden, die Ratten, die die Pest eingeschleppt hatten. Der Pestbazillus, so glaubt er, werde niemals aussterben. Die Ratten werden die Krankheit erneut auslösen und Unglück über die Menschen bringen, um sie zu belehren. Genau darum, um aufzuklären und zu belehren, erzählt der Arzt die Geschichte der Pest in Oran. Er ist der Chronist, der sachlich berichtet, was geschehen ist - ohne große Emotionen, aber die Dinge klar beim Namen nennend. „Ich habe gelernt, dass wir alle im Zustand der Pest sind“, sagt Rieux, „und dass das Unglück der Welt entsteht, weil wir keine klare Sprache sprechen.“
Rieux‘ Chronik ist geschrieben gegen das Vergessen. Zur Zeit der Veröffentlichung von Albert Camus‘ Roman im Jahre 1947 galt Die Pest als Metapher für den Zustand des Landes während der Résistance, für die Eingeschlossenheit der Menschen, für Krieg und Totalitarismus. Die Überwindung der Pest gelingt durch Kooperation und Solidarität. „Welche Eigenschaften muss man haben, um zum Frieden zu kommen?“, fragt Rieux gegen Ende der Handlung, und Tarrou, sein Nachbar und Kooperationspartner im Kampf gegen die Krankheit, antwortet: „Mitgefühl!“ – Es ist dieses Mitgefühl, das den Regisseur Ulrich Greb am Schlosstheater Moers besonders interessiert und das zum Anlass für eine Inszenierung des Stückes in der heutigen Zeit wird. Fremdenfeindlichkeit, Flüchtlingsschicksale, ganz aktuell wieder Bürgerkriegsopfer – man muss die Dinge beim Namen nennen, Zahlen und Fakten präsentieren, den Verdrängungsmechanismus der Menschen außer Kraft setzen, meinen Greb und seine Dramaturgin Viola Köster und fragen dennoch im Programmheft: „Schaffen diese Fakten es überhaupt (noch), unser Mitgefühl für „die anderen“ zu erregen?“ – Allein das Wort „die anderen“ sei im Sinne von Camus schon falsch. Er verstehe unter „Wir“ „alle Menschen, die Not leiden“. Wie für Camus‘ Protagonisten Rieux sollte auch für uns eine ideologiefreie Solidarität mit allen Menschen, die sich in Not befinden, selbstverständlich sein.
Ob man beim Besuch der Aufführung die im Programmheft so unmissverständlich formulierte Botschaft versteht, sei dahingestellt. Für die Wirkmächtigkeit der Inszenierung ist das nicht entscheidend. Das Verlies im Moerser Schloss unterscheidet diesmal nicht zwischen Bühne und Parkett, aber es gibt ein Drinnen und ein Draußen. Die Mehrzahl der Zuschauer sitzt in zwei langen Reihen in einem Sanitätszelt – „Internierungszelt“ wird es später genannt werden. Am Kopfende empfangen uns die sechs Schauspieler in schwarzen Kitteln mit weißen Schürzen – und mit Rattenköpfen. Sie alle spielen wechselnde Figuren; vor allem aber sind sie alle Chronisten, so wie die Literaturkritik ja meint, jede der Hauptfiguren in Camus‘ Roman trüge einzelne autobiographische Züge. Das eigentliche Alter Ego des Autors aber ist Dr. Rieux. Der Arzt wird in Moers durch eine Puppe verkörpert, der der großartige Puppenbauer Patrick Maillard eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Albert Camus mitgegeben hat. Diese Puppe ist der gelassene, aber mitfühlende Grandseigneur, der nachdenklich durch die Straßen wandert und huldvoll grüßt, der Mann, der nach Lösungen sucht, der revoltiert gegen die Sinnlosigkeit und Absurdität der Welt. „Der Mensch ist eine Idee“, heißt es – „eine beschissene Idee, sobald er sich von der Liebe abwendet. Und zur Liebe sind wir nicht mehr fähig.“ Nur die Liebe aber, die universale Menschenliebe, kann die Pest besiegen.
Es grenzt schon an Lakonie, wenn die Chronisten sich auf das beschränken, was ihre Pflicht ist: ausschließlich zu sagen, was geschehen ist. Aber Rieux spürt man nicht nur die universale Menschenliebe, sondern auch die Liebe zu seiner Frau an. Sie ist schon ein Jahr vor dem Erscheinen der ersten toten Ratte erkrankt – und so ist sie die erste, die aus dem Sanitätszelt abgeführt wird: Behutsam bittet einer der Schauspieler eine Zuschauerin aus dem Zelt heraus und weist ihr einen Platz hinter dem weißen Netz des der Zeltwand an. Wir, die wir im Zelt bleiben, erhalten Medikamente: einen Becher zu trinken, später etwas zu essen. Rieux versucht mit den Mitteln des Mediziners zu helfen, der von Matthias Heße gespielte Pope Paneloux mit den Mitteln der Kirche: Er spricht einen Segen und sprüht Weihrauch (in Moers allerdings mit einem Wasserzerstäuber). Die Krankheit sei eine Geißel Gottes, eine Strafe für die Sünden der Menschen, glaubt der Jesuitenpater und hält eine verbissene, geradezu bigotte Strafpredigt. Ihm persönlich wird das keinen Nutzen bringen: Er wird unter Qualen sterben. Doch auch die Medikamente nützen nur wenig; nach und nach werden immer mehr von uns aus dem Inneren des Zeltes herausgeführt: sanft, zugewandt, aber unmissverständlich. Wenn das Zelt die Metapher ist für die Überlebenden, die nicht ins Exil müssen und nicht an der Pest sterben, so bleiben nur wenige von uns lebendig. Die übrigen verfolgen das weitere Geschehen von außen durch die Netze. Kurz bevor die Pest sich zurückzieht, werden auch diese entfernt.
Konsequent steigert die Inszenierung die bereits von Anfang an spürbare beklemmende Atmosphäre. Die weißen Schürzen der Schauspieler werden nach und nach blutrot. Mit ruhiger, klarer Sprache wird eine Bedrohung geschildert, deren Eskalation von Beginn an vorherzusehen ist. Der Nebel (Desinfektionsmittel), in den wir eingehüllt werden, die Medikamente, die wir verabreicht bekommen, der immer leerer werdende Innenraum mit den Menschen, deren Lebenssituation sich noch nicht nachhaltig verändert – all das verstärkt die Beklemmung. Wie Türwächter bewachen Schauspieler die Fluchtwege in die Außenwelt – ein Gefühl der Unentrinnbarkeit stellt sich ein. Natürlich eskaliert die Lage auch in der Erzählung: Wir erfahren von Trennung und Exil, Angst und Auflehnung, von Bränden und Plünderungen; die Lage in der Stadt wird immer apokalyptischer. Dabei wird kaum einmal geschrien: gejammert wird leise, introvertiert - und damit umso wirkungsvoller. Auch der Soundtrack trägt zur zunehmenden Beklemmung bei – und ist dann immer wieder durchsetzt von irritierend, ja: schmerzhaft fröhlicher 1950er-Jahre-Tanzmusik.
Die Schauspieler treffen den Ton von Camus‘ Roman perfekt. Manchmal ertappt man sich bei dem Gedanken, dass die beinahe lakonische Sprache etwas Mitleidloses habe. Aber man muss halt die Dinge beim Namen nennen. So mitleidlos ist das alles nicht. Wenn wir der Puppe, die den Rieux verkörpert, in die Augen sehen, spüren wir deren Traurigkeit – und deren Mitgefühl. Wenn jemand uns retten kann, dann ist es eine, diese Puppe.