Rainer Werner F, revisited
Peter Richters Wende-Roman 89/90, Martin Heckmanns‘ Vaterlandsverräter, Annalena und Konstantin Küsperts Der Bundesbürger, Thea Dorns Riefenstahl-Dietrich-Farce Marleni, aber auch Kleists Prinz Friedrich von Homburg, Svenja Viola Bungartens Flüchtlings-Komödie Bonn ist eine Stadt im Meer, Tugsal Moguls Deutsche Ärzte ohne Grenzen, Palmetshofers Hauptmann-Überschreibung Vor Sonnenaufgang oder eine Koproduktion des Performance-Kollektivs SKART zum Thema German Angst – selten sahen wir ein so konsequent auf ein Thema ausgerichtetes Jahresprogramm eines deutschen Stadttheaters wie am Theater Münster. Die bundesdeutsche Geschichte und die deutschen Befindlichkeiten werden beleuchtet und stehen im Fokus eines hochattraktiven Spielplans. Das große Prestige-Projekt aber hat sich Schauspieldirektor Frank Behnke gleich zur Eröffnung der Spielzeit auf der Großen Bühne vorgenommen: In viereinhalb Stunden bringt er die drei großen Filme von Rainer Werner Fassbinder auf die Bühne, in denen der allzu früh verstorbene Regisseur sich aus einer radikal subjektiven Sicht der Nachkriegsgeschichte und dem Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik widmete. Sein Blick war kritisch, seine Filme waren opulent. Für seine drei Frauenfiguren, die im Zentrum der jeweiligen Filme stehen, bewies Fassbinder große Empathie.
Es sind drei sehr verschiedene Frauen, die Behnke entsprechend mit unterschiedlichen Typen besetzt. Rose Lohmann gibt die Titelfigur in Die Ehe der Maria Braun. Schon zu Beginn des Abends, als Maria täglich am Bahnhof unter den ankommenden Kriegsheimkehrern ihren vermissten Ehemann sucht, wirkt sie spröde; später wird aus der Sprödigkeit Kälte. Maria macht sich im Nachtclub an den Amerikaner Bill heran, kommt durch ihn an Geld und Zigaretten, aber erschlägt ihn, als Gatte Hermann überraschend aus der Gefangenschaft zurückkehrt. Der nimmt den Mord auf sich, wandert ins Gefängnis und wundert sich über die zwischenzeitlich erfolgte Entsolidarisierung der Gesellschaft, als er nach Jahren entlassen wird. Aus Maria ist eine erfolgreiche Business Woman geworden, zielstrebig, kühl kalkulierend und von brutaler, rücksichtsloser Ehrlichkeit. Sie ist wohlhabend; hat sich hochgeschlafen, aber dabei stets ihre Unabhängigkeit bewahrt. Gefühle oder Empathie für andere verbietet sie sich. Es sind diese emotionalen Kosten des Wirtschaftswunders, die im Fokus des von Fassbinders Melodram stehen. Marias Nachkriegs-Sehnsucht nach einer glücklichen Ehe mit Hermann hat sich nie erfüllt – und sie wird sich auch dann nicht erfüllen, wenn beide durch eine großzügige Wendung des Schicksals gleichermaßen reich geworden sind. Bei Behnke endet die Beziehung trotz Marias außergewöhnlicher Emanzipations-Karriere im tradierten Rollenmuster der 1950er, 1960er Jahre: Hermann fiebert mit der deutschen Nationalelf, und Maria schiebt den Staubsauger.
Drei Frauen, drei Titelfiguren, drei mal mehr, mal weniger gebrochene Heldinnen: Natürlich spricht Frank Behnke an diesem Abend auch das Thema der Emanzipation der Frau an. Im ersten Teil aber konzentriert er sich auf die deutsche Wirtschaftsgeschichte und das Entstehen des kapitalistischen Systems in der BRD. Dass es ein Raubtier-Kapitalismus ist, wird spätestens klar, als Maria als erfolgreiche Geschäftsfrau zu Besuch in das Milieu ihrer Jugend zurückkehrt: „Was einem zusteht, das verlangt man“, sagt sie unbarmherzig. Ihre Gier ist kaum zu befriedigen: „Bei mir hängt die reale Entwicklung immer meinem Bewusstsein nach“, spottet sie ein wenig arrogant, als man darüber spricht, dass das Bewusstsein des Proletariers proletarisch bleibt, auch wenn er sich längst in eine andere Klasse entwickelt hat.
Bei Rose Lohmann kommt diese Arroganz allerdings nur sehr gebremst rüber. Es sind nicht die Schauspieler, die diesen Teil der Trilogie tragen, der von vielen Premierenzuschauern später als derjenige bezeichnet wurde, der ihnen am besten gefallen habe. Frank Behnke jagt seine Akteure holterdipolter durch den dem Fassbinder-Film eng folgenden Plot. Doch es gelingt kaum, Charaktere zu formen, die nahegehen oder berühren. Interessant sind stattdessen die kleinen Zeichen im Bühnenbild und die filmischen Einspielungen, die den Fortgang der Handlung begleiten und manchmal ins Heute weisen. Zu Beginn werden die Videos vom Trümmerdeutschland auf der Bühne gespiegelt von herunterfahrenden Deckenscheinwerfern, die wie Bomben wirken. Dann dementiert Adenauer kraftvoll jede Absicht zur Wiederaufrüstung – und wird eine knappe Stunde später ebendiese mit der gleichen Kraft vorantreiben. Die Glaubwürdigkeit der Politiker, so will uns der Abend wohl sagen, war schon damals nicht größer als heute, wo sie Politikmüdigkeit ausgelöst hat und viele Wähler an die linken und rechten Ränder des politischen Spektrums treibt. (Dass es fatal wäre, wenn Politiker und Wirtschaftsführer nicht lernen und ihre Entscheidungen nicht neuen, kaum vorausgesehenen Entwicklungen anpassen würden, ist offenbar noch niemandem in den Kopf gekommen.) - Im Zuge des fortschreitenden Aufschwungs wird der Plunder, der die Bühne zu Beginn wie Kriegstrümmer bedeckt hatte, immer mehr auf die Hinterbühne verdrängt, und modernere Bürolandschaften dominieren das Bild. Kiefernholzmöbel zeigen: Das Land ist auferstanden aus Ruinen. So ist das Ganze denn szenisch durchaus einfallsreich, aber über die Nacherzählung des Plots gerät dieser erste Teil kaum hinaus. Dass Hermann nicht nur der 54er, sondern auch der 90er und der 2014er Weltmeister-Elf zujubelt, sei geschenkt. Eine lineare Entwicklung hat die BRD in den letzten 70 Jahren nicht genommen – nicht mal im Hinblick auf den Fußball-Patriotismus…
So fand denn der Schreiber dieser Zeilen den zweiten Teil des Abends viel überzeugender. Die Sehnsucht der Veronika Voss thematisiert die unbewältigte Vergangenheit und die Gebrochenheit einer zu UFA-Zeiten erfolgreichen Filmschauspielerin. Veronika Voss kommt im Nachkriegs-Deutschland
nicht wieder auf die Beine. Sie ist alkohol- und tablettensüchtig und wird von ihrer Ärztin und Psychiaterin Marianne Katz in Abhängigkeit gehalten. Der von dem Idol seiner Jugend faszinierte Sportreporter Robert Krohn kommt den Ungereimtheiten im Leben von Veronika Voss und ihrer Ärztin auf die Spur. Seine Wandlung zum investigativen Journalisten kostet seine Freundin Henriette das Leben; Veronika, der eine Rolle in Hollywood zu winken scheint, bricht zusammen und bringt sich um, als ihr das Morphium entzogen wird.
Frank Behnke findet in diesem zweiten Teil zu einer deutlich eigenständigeren Ästhetik. Er mischt der Inszenierung die Ingredienzen eines Horrorfilms bei. Stärker noch als im ersten Teil zitiert der Regisseur filmische Traditionen, nicht nur durch die immer wieder über die Leinwand flimmernden Bilder alter UFA-Filme oder von Clips aus Auschwitz und Treblinka. Durch einen breiten Spalt im Bühnenbild blicken wir in das klinisch weiße, gruselig-elegante Praxis-Imperium von Frau Dr. Katz. Mit einem einleuchtenden, gut funktionierenden und für Fassbinder und Behnke wohl sinnbildlich für den Kapitalismus stehenden Geschäftsmodell ist die nach dem Krieg schnell reicht geworden: Ihre Patienten werden durch Morphium und Tabletten in Abhängigkeit gebracht und überschreiben ihr aus Dankbarkeit ihr Vermögen. Dann werden sie in den Tod getrieben. Veronika Voss wird ihre Träume nicht in der Hollywoods Traumfabrik reparieren lassen können. Sie wird von den Alpträumen ihrer Nazi-Vergangenheit eingeholt und endet am Kreuz. Am Hakenkreuz…
Die gesamte Inszenierung dieses zweiten Teils ist in Schwarz-Weiß gehalten: Weiß-weiß sind die Praxisräume, schwarz, weiß und silbern die Kostüme aller Figuren, nur Henriette, die als einzige einer gesunden Welt zu entstammen scheint, bringt mit ihrer Kleidung ein wenig Farbe in den Grusel. Doch Farbe, Frohsinn und Optimismus gehen unter in dieser Welt. Carola von Seckendorff gibt im silbernen Kleid die wankende Diva, wobei ihr die Affektiertheit der sich in der alten Schauspielerwelt wähnenden Künstlerin nicht steht und sie nur in den Momenten des Bittstellertums zu überzeugen vermag. Dagegen ist Sandra Schreiber als Marianne Katz die erste Schauspielerin an diesem Abend, die einen spannenden, interessanten Charakter auszugestalten versteht. Attraktiv, manipulativ, bisweilen dämonisch hebt sie das schauspielerische Niveau der Inszenierung an. Aufmerksame Blicke wirft man auf einen fast stummen Charakter: Jonas Riemer ist der düstere, zynische, meist schweigende GI-Dealer und „Mephisto“ – der stumme Profiteur der Manipulationen im Hintergrund.
Riemer gehört auch die Show im dritten Teil des Abends. In Lolaist das Wirtschaftswunder schon fortgeschritten: Es gibt eine tolle Rotlicht-Bar, in der die Honoratioren der Stadt über die Stränge schlagen, und es wird gebaut ohne Ende. Und wo gebaut wird, ist häufig die Korruption nicht weit. Vor allem nicht, wenn man einen so grobschlächtigen, aber bauernschlauen Bauunternehmer wie Jonas Riemers Schuckert hat. Der ist ein Fall für manipulite und Tangentopoli; saubere Hände hat er höchstens, wenn er vom Klo kommt. Immer aggressiver werdend, kauft er Geschäftspartner wie Bardamen nach allen Regeln der Kunst – Sandra Schreibers Lola durchbricht als erste an diesem Abend die vierte Wand und flüchtet ins Parkett. Schuckert verschwindet mit den übrigen Honoratioren, vor allem dem aufrechten neuen Baudezernenten von Bohm, der der Korruption den Kampf ansagt, in der Geisterbahn: Er geriert sich als der König im Purpurmantel; die übrigen irrlichtern über den Jahrmarkt mit Schweinemasken oder als Mickey Mouse.
Lola ist über weite Strecken recht komödiantisch inszeniert. Vor allem Jonas Riemers Spiel kommt das sehr entgegen; seine Szenen mit Lola und mit von Bohm haben Witz. Gerhard Mohr als Bürgermeister Völker ist so statusbewusst wie korrupt: hochseriös gekleidet, aber schmierig in der Sprache. Sandra Schreiber als Lola legt eine gelungene Besoffenen-Szene hin. Alles in allem gelingt die Überzeichnung der Kleinstadt-„Idylle“ unterhaltsam, aber an die Wirkung der filmischen Vorlagen kommt auch Lola nicht ansatzweise heran. Drei abendfüllende Geschichten in vier Stunden erzählen zu wollen, führt in Münster zu allzu vielen Verlusten, denn auf ein Finetuning der Charaktere und eine emotional wirksame Ausgestaltung der einzelnen Szenen wird zu wenig Wert gelegt. Doch die Konfrontation mit der kompletten BRD-Trilogie macht die Entwicklung kapitalistischer Auswüchse im Zeitablauf der Nachkriegsgeschichte deutlich: Ist Maria Brauns Kälte und Unbarmherzigkeit aus der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit verständlich, so erfolgt durch Frau Dr. Katz in Die Sehnsucht der Veronika Voss eine individuelle, kriminelle Ausbeutung hilfloser (wenn auch im Falle von Veronika Voss vielleicht nicht schuldloser) Überlebender, die moralisch viel verwerflicher erscheint als das Verhalten von Maria Braun. Bei Lola aber ist das Verbrechen schon systemimmanent: Eine Hand wäscht die andere, die Korruption blüht, und der moralisch Aufrechte hat im Grunde genommen keine Chance, sich aufzulehnen. „Make theatre, not CO2“, schreiben die Demonstranten in Lola auf ihre Plakate und weisen so – wie auch manche der Film-Einblendungen - auf die Fortsetzung der Geschichte bis in unsere Tage hin.
Doch wie steht es eigentlich wirklich in unseren Tagen? „Ich glaube, dass vieles in Deutschland derzeit darauf hindeutet, dass sich das Land rückwärts entwickelt“, sagt Rainer Werner Fassbinder in einer Filmaufnahme, die ganz zu Beginn des Abends eingespielt wird. Das ist ein Satz, der heute wieder bitter wahr scheint: Nationalistische, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen werden stärker, der Wohlstand ist bedroht durch Protektionismus sowie aggressives Verhalten der drei Großmächte und durch Auswüchse einer direkten Demokratie, die jede zügige Umsetzung von Infrastruktur- oder Klimaschutzmaßnahmen verhindert. Frank Behnke ist mit der Nacherzählung von Fassbinders BRD-Trilogie zwar kein großer Theaterabend gelungen, aber er verführt zum Nachdenken, warum wir geworden sind wie wir sind – wir persönlich sowie der Charakter unseres Volkes. Doch dann unterläuft Behnke dieser peinliche Schluss:
Völlig unvermittelt steigt Ilja Harjes aus seiner Rolle als von Bohm aus. Undifferenziert und ohne argumentatives Fundament polemisiert er gegen die soziale Marktwirtschaft, gegen den „viertklassigen Ökonomen“ Ludwig Ehrhardt, gegen Boni-Banker und die Macht der „weißen Männer“, gegen das Streben nach Wirtschaftswachstum. Dass allein das Wachstum in Zeiten zunehmender Digitalisierung und zunehmender Wirtschaftskraft Asiens die Arbeitsplätze unserer Kinder sichern kann, interessiert nicht. „Noch nie in der Geschichte war der Kampf ums Geld so entfesselt wie heute“, spricht Harjes mit mahnendem Blick ins erleuchtete Parkett als hätte er nie von den Auswüchsen des ungeregelten Frühkapitalismus gehört und als hätte sich die wirtschaftliche Situation aller, ausschließlich aller Bevölkerungsschichten in Deutschland seit den Zeiten, von denen Fassbinders Filme künden, nicht nachhaltig verbessert. Solch einen Agitprop kann man im Theater verbreiten, wenn man den Aufruf zur Revolution künstlerisch so herausragend verpackt wie es z. B. Christopher Rüping in seiner modernisierten Version von Brechts Trommeln in der Nachtan den Münchner Kammerspielen gelingt. In Münster aber gerät die Szene zu plattem populistischem Stammtisch-Gerede, das allenfalls geeignet ist, die gefährlichen politischen Positionen an den radikalen Rändern unserer Gesellschaft zu stärken.
Fast zwingend finden sich zum Schluss dieses viereinhalbstündigen Abends Maria Braun, Veronika Voss und Lola noch einmal zu einem starken Frauen-Team zusammen. Aber was tun sie? Das, was Ilja Harjes in seiner Suada beim besten Willen nicht mehr unterbringen konnte: Sie entwerfen eine radikalfeministische Zukunftsvision. Schade, der Agitprop-Schluss gibt Abzüge in der Wertung für den künstlerischen Ausdruck. Es ist, als wäre Aljona Savchenko beim allerletzten Doppel-Axel ihrer Kür mit lauten Platsch auf dem Hintern gelandet.