Agententhriller und Weltgeschichte mit wenig Pep
Mit ihrer dreijährigen Tochter sei sie im Dschungel von Venezuela ausgesetzt gewesen, behauptet eine der vier Schauspielerinnen, die wechselweise die Geschichte der Marita Lorenz erzählen: „acht Monate lang!“ – „Vier Wochen“, korrigiert eine ihrer Kolleginnen. Gelächter im Publikum: So weit ist das her mit „Alles ist wahr“. So weit wie eine Geschichte halt wahr sein kann, die eine Frau über sich selbst erzählt, deren berufliches und privates Leben nur aus Tarnen, Tricksen, Täuschen bestand. Denn Marita Lorenz war Geheimdienstagentin. Sie stand in den Diensten der CIA. Die Eckdaten ihres Lebens sind wahr. Über die Details kursieren fast immer mehrere Versionen. Manches, was Marita über ihre Rolle in der Weltgeschichte behauptet, ist sogar nachweislich unwahr. Aber was ist das für eine faszinierende, abenteuerliche Geschichte, die das Theater Oberhausen in achtzig Minuten auf die Bühne zu bringen versucht!
Zu Beginn ist diese Bühne in roten Nebel getaucht, Martin Engelbach macht Musik, und die vier Schauspielerinnen hangeln sich an Seilen vom Schnürboden herab. „Dangerous“, warnen Plakate in Marie Gimpels Bühnenbild. Susanne Burkhard, Shari Asha Crosson, Elisabeth Hoppe und Nina Karimy hechten durch den Nebel, die Pistole stets im Anschlag. Marita Lorenz muss, wenn man ihre Lebensgeschichte hört, so etwas wie eine Kreuzung aus James Bond und Lara Croft gewesen sein. Regisseurin Babett Grube und ihr Team zeigen das in der Auftakt-Szene zu ihrer Inszenierung als gelungene ironische Agentenfilm-Parodie. Nina Karimy schwelgt in Erinnerungen wie die Seeräuber-Jenny: „Bist du je im Morgengrauen losgesegelt, auf einem Schiff mit acht Segeln…?“
Denn soviel ist wahr: Marita Lorenz war die Tochter eines Kapitäns und wurde 1939 in Bremen geboren. Ihre Mutter war eine experimentelle Ausdruckstänzerin amerikanischer Nationalität, die im Zweiten Weltkrieg unter dem Verdacht der Spionage für die USA und Großbritannien und der Befreiung von Zwangsarbeitern verhaftet und mit der fünfjährigen Marita ins KZ Bergen-Belsen deportiert wurde. Als die Befreier kamen, sei sie „halb tot“ gewesen, sagt Marita, doch als 19jährige sticht sie mit ihrem Vater in See. Das Kreuzfahrtschiff legt kurz nach der kubanischen Revolution in Havanna an, und Marita wird die Geliebte Fidel Castros. Ein gemeinsames Kind wird zwangsabgetrieben. Marita Lorenz siedelt sich in Florida an und wird von der CIA als Agentin angeworben. Nun ist sie die ideale Honigfalle. Sie schließt sich der militanten ultrakonservativen Gruppe von Frank Sturgis an, der später als einer der Einbrecher in der Watergate-Affäre zu zweifelhaftem Ruhm und Ehre kommen wird, und erhält den Auftrag, Fidel Castro zu ermorden. Sie zieht mit zwei Giftpillen los, doch die Geschichte hat gezeigt: Marita lässt den „lieben Fidel“ (so der Titel eines Films über Maritas Abenteuer) am Leben, denn nach eigener Aussage hat sie die Liebe zu dem charismatischen Diktator nie losgelassen. Da Fidel als Bettgenosse ausfällt, wird sie bald die Geliebte des venezolanischen Diktators Marcos Pérez Jiménez. Mit ihm zeugt sie ihre Tochter Mónica, die in Babett Grubes Inszenierung ebenfalls zu Wort kommt und ihre Mutter nicht ganz zu Unrecht als „Diktatoren-Groupie“ bezeichnet. Unzuverlässig geworden und durch ihre Behauptung einer Verwicklung ihrer exilkubanischen Freunde in die Ermordung John F. Kennedys in Ungnade gefallen, ist ihre große Agentenzeit vorbei, und sie bekommt nur noch marginale Aufträge. Regisseur Dominik Busch und die Dramaturgin Patricia Nickel-Dönicke haben sie im Vorfeld der Inszenierung in einem Altenheim in New York besucht; vor wenigen Monaten zog sie von dort nach … Oberhausen!
„Machen Sie sich auf großes Kino gefasst“, verspricht der Programmzettel des Theaters Oberhausen. Die geschilderte Eingangs-Sequenz schürt Hoffnungen, dass dieses Versprechen eingelöst wird. Die Bühne von Marie Gimpel ist einfallsreich und ironisch – ein stilisiertes Schiff wie das, auf dem Maritas Abenteuer begann, ein kleines Gebirge und davor eine Werbung von TUI, die „grenzenlose Freiheit“ verspricht – Urlaub an den Orten, an denen sich Marita Lorenz in lebensgefährliche Aktionen und am Ende wohl auch in eine lebenslange Abhängigkeit von den Geheimdiensten verstrickte. Doch letztlich wird die große Agenten-Story merkwürdig bieder präsentiert. Dominik Busch und Babett Grube haben die Geschichte in große Monologe unterteilt und ihre Schauspielerinnen mit den teilweise endlos langen Texten ziemlich allein gelassen. Maritas Leben wird aus heutiger Perspektive in Rückblicken erzählt und hinterfragt: Zunächst ist es Susanne Burkhard, die über die Kindheit und Jugend Maritas spricht und auch die Rolle von Maritas Mutter hinterfragt; Shari Asha Crosson feiert die Ankunft in Havanna und die erste Begegnung mit Fidel Castro, während Nina Karimy gleichzeitig recht fetzig einen kubanischen Tanz persifliert und Elisabeth Hoppe Fidel Castro und Che Guevara parodiert. Sie erzählt auch die Geschichte der Schwangerschaft. Am Schluss wird Mónica sich mit der Rolle ihrer Mutter beschäftigen. Marita erklärt da die Motivation für ihr lebenslanges Tun: „Frank (Sturgis) und ich standen über dem Gesetz. Das gibt ein tolles Gefühl.“
Die Sprache schwankt zwischen sachlichem Bericht, kurzen Gefühlsausbrüchen und lyrischen Überhöhungen – vor allem Letzteren vermögen die Schauspielerinnen jedoch keinen Klang zu geben. Witzig sind die immer mal wieder eingefügten Agentenfilm-Parodien; Schießübungen zur Vorbereitung auf das Agentenleben in Kuba sorgen für ein bisschen Lärm und Stimmung. Ein Attentatsversuch wird geschildert, als alle vier Marita-Darstellerinnen mit Haarspray am Fenster der TUI-Yacht stehen – das ist ein recht gelungenes, weil ironisches Bild, das bereits auf das eher traurige Ende von Maritas Agenten-Laufbahn verweist. Im Altenheim gelingt Babett Grube dann noch einmal ein witziges, wiewohl auch bittersüßes Bild: Eine Oberhausener Seniorengruppe vollführt unbeholfene Tänzchen mit ihren Rollatoren. Maritas spannendes Leben endet wie das von Lieschen Müller aus Sterkrade – im betreuten Wohnen.
Dort – im Altenheim von Sterkrade - starb Marita Lorenz am 31. August dieses Jahres an Herzversagen. Exakt sechs Wochen vor der Premiere. Es ist eine Schande: Marita hätte so spannend von ihren neun Leben erzählen können. Es wäre eine große Geschichte gewesen, die sie erzählt hätte, eine unglaubliche Adventure Story vor dem Hintergrund der Weltgeschichte. Im Theater Oberhausen ist diese Geschichte leider allzu klein und hausbacken geraten.