Übrigens …

Neujahr im Bielefeld, Stadttheater

Das Monster des Traumas

Der Roman erschien pünktlich zum Weihnachtsgeschäft 2018. Auf dem Geschenketisch macht er sich gut, eine Woche vor „Neujahr. Von Heiligabend bis Silvester hat man ihn locker gelesen, obwohl man sich durch den ersten Teil ein bisschen quälen muss. So wie Henning, der auf dem Fahrrad sitzt. Es ist der „Erste Erste“, und erbarmungslos gegen sich selbst setzt er den ersten Vorsatz für das beginnende Jahr um: Er strampelt hinauf nach Femés, durch die schattenlose Vulkanlandschaft von Lanzarote. Er kämpft – gegen den Wind, gegen die Steigung und gegen die Panikattacke, die ihn mal wieder anzufallen droht. Er lässt die jüngere Vergangenheit Revue passieren: den (für ihn) nicht wirklich zufriedenstellend verlaufenen Silvesterabend, die (für ihn) nicht in der Balance befindliche Beanspruchung durch Familie und Beruf. Henning ist ein Mann wie du und ich, wenn du ein Mann bist: gehobener Mittelstand; Beruf und Familie sind im Lot, aber irgendetwas fehlt zum Glück. Die Sache mit dem modernen Rollenverständnis hat er klar, aber nur intellektuell – Mann kann den veränderten Erwartungen, die die Gesellschaft heute an im Haushalt helfende Ehemänner, kindererziehende Väter und erfolgreiche Angestellte stellt, nicht mehr gerecht werden. Und so strampelt Henning siebzig Seiten lang – auf dem Fahrrad und in Gedanken. Mann ist dankbar für Juli Zehs objektive Analyse unserer Probleme mit den gesellschaftlichen Veränderungen. Aber das alles ist ein bisschen zäh.

Kein Problem: Wer bis Neujahr fertig sein will mit dem Lesen, kann sich gelassen sechs Tage Zeit für diese 70 Seiten nehmen. Denn am siebtemTage (oder ab Seite 93) wird man das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Hoch droben über Femés hat Henning ein Déjà vu: Nach und nach kommt ihm ein verdrängtes, von seiner Mutter totgeschwiegenes traumatisches Kindheitserlebnis ins Gedächtnis, das der Grund für seine Panikattacken ist. In einer langen, langen Rückblende, die nahezu bis zum Ende des Romans währt, wird eine furchtbare, über viele Tage anhaltende Geschichte von Angst und Abhängigkeit, Vertrauen und Verlassenheit, kindlichem Verantwortungsbewusstsein und grenzenloser Überforderung erzählt – aus Kinderperspektive. Wir wissen, dass Henning und seine Schwester Luna überlebt haben, denn sie kommen ja schon im ersten Teil des Romans als Erwachsene zu Wort, aber wir lesen atemlos, voller Angst und innerer Unruhe. Juli Zehs Roman ist literarisch nicht der stärkste, den sie geschrieben hat, aber die zweite Hälfte ist das Spannendste, was der Schreiber dieser Zeilen in den letzten Jahren gelesen hat.

Bloß: Wie soll man das auf der Bühne umsetzten? Fahrradfahren mit permanenten, in den Zeitebenen hin und her wechselnden Rückblicken auf eine belanglose Allerwelts-Familiengeschichte? Eine lange, bedrohliche Story, in der die handelnden Personen ausschließlich aus einem Fünfjährigen und einer Zweijährigen bestehen? Wird das wieder eine der oft so öden Romanadaptionen, bei denen im Wesentlichen nur der Text des Buchs rezitiert und mit ein paar hilflosen Gängen und Gesten bebildert wird?

Nun, hilflos ist Dariusch Yadzkhasti nicht. Vor dem Rezitieren des Originaltexts hat er keine Angst: Schon wie Leona Grundig, die mit beeindruckender Variabilität sämtliche weibliche Figuren des Buchs verkörpert, den Originaltext mit den Karikaturen verschiedener Urlauberinnen verschränkt, hat komödiantische Qualität und viele ironische Untertöne. Yadzkhasti gelingt ein treffendes ironisches Portrait des bürgerlichen Mittelstandes mit befreienden Gedanken für den in eine gesellschaftliche Norm gepressten Familienvater. Aus dem etwas langatmigem Beginn des Romas macht er leichtes Sommerkino. Doch da sind ja schon die Fahrrad-Szenen: Zwar steht ein Zweirad unbenutzt auf Julia Hattsteins Bühne, doch wenn Henning strampelt, strampelt er im Schwarz-Weiß-Video. Schlammig wirkt die Landschaft oft, durch die er radelt; selbst wenn einmal weiße Häuser auftauchen, haben sie nicht Einladendes. Musikalisch werden die Rad-Szenen unaufdringlich von eintönigen, traurig machenden Motiven untermalt. Während die Spielszenen amüsieren, wirken die Videos von Beginn an düsterer. Henning scheint irgendwie getrieben. In ihrem Spiel schaffen es Leona Grundig und Lukas Graser immer wieder, binnen Sekunden die Atmosphäre der Aufführung zu verändern. Wir erfahren von Lunas Essstörungen, von Hennings wiederkehrenden depressiven Schüben und Panikattacken, die wir bald als eine Angststörung identifizieren. Und Henning: strampelt. Je schlechter es ihm geht, desto stärker verschwindet die Landschaft um ihn herum: Auf dem Video scheint er sich in einem immer enger werdenden, bedrohlichen Tunnel zu verlieren. Nicht nur Hennings Muskeln sind übersäuert. Am Ende dieses Tunnels lauert seine verdrängte Vergangenheit.

Die kündigt sich durch die berühmte Spinnenwand des Romans an, vor der sich Henning und Luna als Kinder gegruselt haben. Als Henning ihrer gewahr wird, begreift er: Hier ist er schon einmal gewesen. Wie kleine bewegliche Piktogramme tauchen die Tierchen auf dem Videoscreen auf. Konrad Kästners Videos und die Atmosphäre der Aufführung werden nun zeitweise so düster wie in einem Horrorfilm: Henning steigt in seinen Erinnerungen in die Kindheit hinab, als Luna und er an diesem Ort, von Mama und Papa ohne Erklärung verlassen, tagelang auf sich allein gestellt waren und fast verdurstet wären. Nun werden selbst die positiven, schönen Illusionen der Kinder von dunklen musikalischen und visuellen Motiven übermalt. Die Bühne wird umgebaut: Überdimensionierte Möbel, vor allem ein Tisch und zwei Stühle, werden hereingefahren, die wie Zeichnungen aus einem Kinderbuch wirken. Vor, unter und auf den Möbeln sehen die nun Kinderkleidung und kindliche Schwellköpfe tragenden Leona Grundig und Lukas Graser wie unbeholfene Kita-Insassen aus. Haben die Kinder die Masken auf, agieren sie nur noch pantomimisch, und die begleitende Erzählung erfolgt vom Band.

Die Theater-Inszenierung kann nicht die gleiche Spannung erzielen, die beim Lesen dieser Passagen des Buches entsteht, aber sie überzeugt durch eine zutiefst beklemmende Art der Visualisierung. Warum manche Zuschauer noch lachen, während das in der Ferienwohnung ausbrechende Chaos gezeigt wird, die Überforderung und Verzweiflung der Kinder, der berührende Stolz des fünfjährigen Henning, wenn ihm einmal die Erwachsenen-Rolle gelingt, bleibt schleierhaft. Es gibt ein großes Loch in dieser Ferienwohnung, notdürftig mit einer Platte zugedeckt, und damit die Kinder nicht auf den Gedanken kommen, in dieses Loch hineinzuklettern, haben die Eltern ihnen erzählt, darunter wohne ein Monster. In der Aufführung befindet sich das Loch senkrecht in der Rückwand des Zimmers, und es ist quasi die Entsprechung zu dem sich dramatisch verengenden Tunnel, in den der erwachsene, physisch und psychisch überforderte Henning vor ein paar Minuten auf dem Fahrrad gefahren ist. In diesem Tunnel und unter diesem Loch wohnen die Monster des Traumas. Henning mit seinen Angststörungen und Luna mit ihren Essstörungen sind gerade noch mal davongekommen.

Ganz in Weiß, Hand in Hand und unendlich klein sehen wir Henning und Luna durch das Dunkel einer riesigen, schwarzen, leeren Landschaft wandern. Das Bild schnürt dem Empfindsamen die Kehle zu. Die Szene der Rettung haben Elisa Hempel und Dariusch Yazdkhasti in ihrer Bühnenfassung gestrichen. Der erwachsene Henning rast im Höllentempo durch die schwarze Lava den Berg hinunter. Ganz langsam wird das Schwarz-Weiß-Bild heller. Fröhlich wird Henning von Gattin Theresa zum Frühstück empfangen. Zurück in Deutschland, wird das Rätsel der verdrängten Vergangenheit mit Hilfe der Mutter aufgeklärt. Noch einmal möchte man weinen. Warum das dreißig Jahre lange Schweigen? Warum ein solches Erinnerungsloch schaffen? Unter einem solchen Loch wohnen doch die Monster!