Übrigens …

Die Hydra im Bochum, Schauspielhaus

Ohne Krokodil

Der Text ist eine Hydra. Die Inszenierung ist eine Hydra. Die Musik ist eine Hydra. Nur das Krokodil nicht, denn es wird schon im ersten Drittel der Inszenierung davonkrabbeln und den Zuschauer mit seiner Verwirrung allein lassen. Vielleicht soll das Krokodil den riesenhaften Krebs darstellen, der sich im Mythos Herakles auf seinem Weg zur Hydra entgegenstellt, in Bochum aber metaphorisch an die Stirn tippt und trollt: Gegen den antiken Helden stünde so ein träges Kroko eh auf verlorenem Posten. Text und Inszenierung aber - nun, sie sind wie die neunköpfige Schlange, die zu töten zu den zwölf unlösbaren Aufgaben zählte, die Herakles durch seinen Vetter Eurystheus gestellt wurden. Jedes Mal, wenn man der Hydra einen Kopf abschlug, wuchsen ihr zwei neue nach. Und jedes Mal, wenn der Zuschauer im Bochumer Schauspielhaus glaubt, eines der Rätsel von Text und Inszenierung gelöst zu haben, erheben sich zwei neue Fragen aus dem mystischen Dunkel, die wir nicht beantworten können.

Regisseur Tom Schneider, seine Protagonistin Sandra Hüller und die beiden Musiker Moritz Bossmann und Sandro Tajouri haben schon in der fulminanten performativen Adaption von Wolfgang Herrndorfs Bilder deiner großen Liebe zusammengearbeitet, die in der Spielzeit 2015/16 am Theater Neumarkt Zürich herauskam und inzwischen ans Schauspielhaus Bochum übernommen wurde (siehe tp-Besprechung hier). Mitreißend gab Sandra Hüller Herrndorfs Isa als eine Mischung aus Rockstar und verzweifelt gegen die Depression sich wehrender Psychiatrie-Patientin. Die ungewöhnliche Inszenierung funkelt wie ein seltener Diamant in der nordrhein-westfälischen Schauspiel-Landschaft. Nach Herrndorfs leicht konsumierbarer Coming-of-Age-Geschichte hat sich das Team nun mutwillig einer Überforderung gestellt. Mit „Herakles 2“, „Herakles 13“ und der „Befreiung des Prometheus“ (aus „Zement“) hat man ein paar Texte von Heiner Müller zusammengeklaubt, die sich mit dem Hydra-Mythos beschäftigen. Nun fragt man sich ratlos, wie man das nun inszenieren soll. Dabei geht man zunächst in hohem Maße assoziativ vor: Man folgt der Interpretation von Herakles als Archetyp des Arbeiters und thematisiert in der Arbeiterstadt Bochum zunächst einmal die Arbeit der Regie sowie der Schauspieler und Musiker. Man erzählt nämlich erstmal vom Probenprozess.

Und erreicht schon damit ein Ziel des Abends: nämlich Heiner Müller von seinem dröhnenden (wiewohl immer wieder faszinierenden) Pathos zu befreien. Aus dem Off per Lausprecher eingespielt, steht dieses Pathos am Beginn des knapp 90minütigen Abends. Es ist der Beginn von „Herakles 13“: „Brandopfer lagen vor dem Herd des Zeus / Zu reinigen das Haus vom Blut des Lykos / Den er getötet hatte Herakles …“  Solche Texte ins Heute zu transportieren, ist also die Aufgabe - Aufgabe 1 sozusagen, nicht von zwölf, aber doch von mehreren. Also stürzt sich Sandra Hüller in die Probe. Die Bühne ist frei bis zur Brandmauer; wir sehen Ventilatoren, Sound-Boxen, Scheinwerfer. Eine Spielfläche ist mit einem braunen Teppich markiert; darauf das lebensgroße Krokodil. Es wird - wie schon erwähnt - bald verworfen. Wie also bringt man diesen Text heute zum Klingen? Mit Musik zum Beispiel, mit den Feedbackschleifen, die entstehen, weil die elektronischen Instrumente allzu nah beieinanderstehen und ihre Frequenzen einander stören. Es dröhnt und knarzt dann. Indem man an den Reglern dreht, verändert man die Frequenzen, und das, so erzählen Sandra Hüller und Tom Schneider in einem im Programmheft abgedruckten Interview, möge den Versuch versinnbildlichen, die Hydra zu zähmen. Hüller hat Gespräche zwischen den Musikern und der Regie aufgezeichnet und spricht sie im ersten Teil des Abends nach - das ist, logischerweise, nicht nur pathosfrei, sondern suchend, mäandernd, witzig auch. So wie Hüller die Texte spricht, klingt das zwar manchmal ironisch, aber nie banal.

Verkleidet als riesengroße rosa Babyschleife spricht Hüller den eigentlich suggestiv-ekligen Text von der „Befreiung des Prometheus“, in dem Müller die Fäkaldramen der späten 1990er und frühen Nuller-Jahre auf einer hochintellektuellen Sprach-Ebene vorwegnahm. Bei Hüller ist von Ekel so wenig zu spüren wie vom Pathos: sie erzählt die Geschichte unaufgeregt und ruhig, manchmal wie ein Märchen, manchmal mit leiser Ironie, und wenn sie von den drei Pfeilen berichtet, die den Adler verfehlen, der sich an der Leber des Prometheus gütlich tut, wirkt das fast witzig: Der Pfeile verfehlen ihr Ziel, weil Herakles sich wegen des unerträglichen Gestanks die Nase zuhält - und ebendies stellt Sandra Hüller gestisch dar. Auch die beiden Musiker begleiten Hüllers Interpretation des Müller-Texts mit deutlich ausgestellten Gesten. Wie Verrat an Müller wirkt die deeskalierende Sprache Hüllers jedoch nicht: Sie wirkt ebenso faszinierend wie in konventionellen Müller-Aufführungen, nur auf andere Weise. Gegen Ende des „Prometheus“-Texts heißt es: „Es folgte der Selbstmord der Götter“ - und wir erschrecken nicht minder als beim raunenden deutsch-deutschen Dichterfürsten.

In diesem Moment wird es totenstill und stockdunkel. Die Spieler zünden das Feuer an, das Prometheus den Menschen gebracht hat. Das hat zunächst etwas Romantisches und Archaisches, doch dann wird das Feuer ergänzt und ersetzt durch eine piefige 1950er-Jahre Wohnzimmer-Lampe. Unablässig tragen nun die Ausstatter und Bühnenmitarbeiter eine komplette Wohnungsausstattung hinein, inkl. Klo, Kommode und Kühlschrank. Auch ein Expander darf nicht fehlen, der von Hüller ausgiebig genutzt wird. Der Probenprozess ist beim Bühnenbild angelangt und der Herakles-Mythos im konservativen Bürgertum. Hüllers Gedanken beginnen wieder zu mäandern und sich von Heiner Müller und Herakles zu lösen. Sie kapituliert vor dem rätselhaften Text, scheint kurz einmal das Geplapper des Kunstbetriebs zu ironisieren und sinniert über einfache Arbeit und das Verhältnis von körperlicher zu geistiger, Konzentration fordernder Arbeit (Herakles wird von Müller als eher unintellektueller und unkritischer, aber äußerst zuverlässiger Arbeiter gesehen).

Erneut wirkt das eher assoziativ, doch bekommen Text und Inszenierung mehr und mehr existenzielle Züge. Hüller spricht über Aufbau und Zerstörung, über Gottes Auftrag, sich die Welt untertan zu machen, und über die Befreiung von der Funktionalität. Müll wird sortiert und angehäuft - wie im 21. Jahrhundert. Eine Betonmischmaschine dröhnt, Scheinwerfer blenden, und nach etwa der Hälfte der Spielzeit ist der Bau fertig - der Aufbau geschafft. Nach einem Moment der Stille setzt „Herakles 2“ ein, Müllers Text zum Kampf mit der Hydra. Herakles fühlt sich zur Maschine werden - einer Maschine des Tötens und des Zerstörens. Hüller, die ihren Text über einen Kopfhörer eingespielt bekommt und dann nachspricht, intoniert ruhig, präzise, mit hellsichtiger Klarheit. Dann kommt Sturm auf. Die Nebelmaschinen arbeiten, die Götter übernehmen und vernichten die Welt - wie im 21. Jahrhundert? Was gebaut wurde, wird zerstört. Hüller tritt vor den Vorhang und spricht noch einmal den „Brandopfer“-Text, den sie zu Beginn geprobt hatte. Sie spricht ihn zutiefst nachdenklich, depressiv - und so leise, dass man ihn in Reihe 6 schon kaum versteht. Es ist die Apokalypse - und die grenzenlose Überforderung, vor die uns die Welt, der Heiner-Müller-Text und diese Inszenierung stellen.

Die Inszenierung wird man beim ersten Besuch kaum vollständig durchdringen. Auch sie ist eben die neunköpfige Hydra. Aber wenn man den Abend als performative Installation betrachtet, entwickelt er sogartige Atmosphäre. Licht, Kostüme und Sound sind hinreißend; Sandra Hüller, eine der großartigsten Schauspielerinnen am deutschsprachigen Theater, entwickelt immer stärker ein zweites Standbein als experimentell arbeitende Off-Künstlerin. Wie schön, dass sie die Gelegenheit hat, ihre faszinierenden Experimente an den großen Bühnen unseres Landes durchzuführen.