Übrigens …

Antigone im Schauspielhaus Düsseldorf

Tanzen ist besser als Töten

Power, Pep und Wumms“ brauche es, lehrt Aylin Celik auf ihren Workshops für Poetry Slams, die sie in Düsseldorf gelegentlich anbietet. Jetzt slammt sie auf der Bühne des Jungen Schauspiels im Düsseldorfer Schauspielhaus und beweist: Diese Handlungsanweisung passt auch für antike Tragödien perfekt. Treibend ist der Rhythmus von Liesbeth Coltofs Inszenierung, mitreißend die Musik von Johan Leenders und Philipp Alfons Heitmann. Zu einem Rap über die Unberechenbarkeit und Unlogik von Liebe tanzen Selin Dörtkardes und Eduard Lind als Antigone und Haimon auf dem oberen Podest des Bühnenbildes einen großartigen Ausdruckstanz der Liebe und der Verzweiflung. „Tanzen ist besser als Töten“ – Jubel bricht aus, als Kreon andeutet, über die Revision seiner grausamen Entscheidung nachdenken zu wollen. Was für eine Power! „It don’t mean a thing if it ain’t got that swing“, wusste schon Duke Ellington.

Wenn der Umkehrschluss ebenfalls gültig ist, dann ist diese Antigone so meaningful wie wir noch selten eine gesehen haben. Liesbeth Coltof inszeniert Sophokles‘ Antigone für eine Zielgruppe ab 14 Jahren, doch die Aufführung wirkt sagenhaft erwachsen. Bei allem jugendlichen Schwung ist die Auseinandersetzung mit dem antiken Stoff ernsthaft und tiefgründig – und ganz beiläufig wird dem aufmerksamen Zuschauer klar gemacht, was der uns heute noch zu sagen hat. Verantwortlich dafür – und das ist eines der zahlreichen Wunder dieser Inszenierung – sind zwei blutjunge „Spoken Word Artists“: die 23jährige Poetry Slammerin Aylin Celik und der 29jährige Rapper Ugur Kepenek aka Busy Beast. Gelegentlich verstärkt durch Jonathan Gyles aus dem Düsseldorfer Ensemble, der gleich in mehreren Rollen brilliert, geben die beiden den Chor. Liesbeth Coltof hat ihnen die komplizierte Hölderlin-Übersetzung des Sophokles-Texts zum Lesen gegeben. Nach dem ersten Schreck haben sie ihre Gedanken dazu in eigene Worte gefasst, die sie nun in der Aufführung vortragen. Kernsätze werden in Laufschrift an der konkaven Projektionswand im Bühnenhintergrund wiedergegeben. Da ist dann die Rede von „den Menschen, die nicht wissen, ob uns Gott schuf oder nicht, / den Menschen, deren Seele an Unebenheit zerbricht“. Und immer wieder fragen sie: „Warum gibt es keinen Reim auf Mensch?“ – Auch Sophokles formulierte seine Erkenntnis, dass man sich auf die Menschen keinen Reim machen kann, auf rhythmisch-eingängige Weise: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch“, skandiert schaudernd der originale antike Chor.

Brüder kämpfen gegen Brüder.“ Ausgehend von dem Kampf der Brüder Eteokles und Polyneikes, die sich gegenseitig in der Schlacht um Theben tödlich verletzen, werfen die Rapper einen Blick auf die heutige Gesellschaft: „Jeder ist hier gegen jeden / … / Immer nehmen und nicht geben“. Zunächst lässt Coltof die Vorgeschichte erzählen, die letztendlich in der kriegerischen Auseinandersetzung endete: die Geschichte von Ödipus, dem Vater von Eteokles, Polyneikes, Ismene und Antigone. Sie mutet den jungen Zuschauern einen anspruchsvollen, von Jonathan Gyles und den Rappern teils poetisch vorgetragenen Text zu. Zu einem kurzen Abriss über das Kriegsgeschehen schaffen ängstliches Keuchen und Sirenengeheul eine Atmosphäre von Spannung und Beklemmung. Auf der Projektionswand versinnbildlichen Explosionen in Pop-Art-Ästhetik den Krieg; übrig bleibt eine öde, graue Wüstenlandschaft, ein leeres Schlachtfeld. Auf dem – wir erinnern uns – bleiben Eteokles und Polyneikes zurück, die sich gegenseitig getötet haben. Eteokles erhält ein feierliches Helden-Begräbnis, Polyneikes, der die Stadt aufgrund eines von seinem Bruder nicht eingehaltenen Versprechens angegriffen hat, darf aufgrund eines Dekrets von Kreon nicht begraben werden. Das ist der Ausgangspunkt von Sophokles‘ Tragödie: Antigone lehnt sich gegen das Bestattungsverbot für ihren Bruder auf.

Selin Dörtkardes ist diese Antigone. Sie hat schon einen Schmiss auf der Backe, eine brennende rote Narbe. Sie steht für die Revolte, für den Kampf – und für eine werteorientierte moralische Grundhaltung. Schmerzerfüllt schreit sie auf, wenn die Rede auf das Verbot zur Bestattung ihres Bruders kommt. Man spürt, dass sie körperlich leidet unter dieser ihr unmenschlich erscheinenden Anordnung. Irgendwann spricht sie frontal das Publikum an: „Manchmal frag‘ ich mich, wie Sie so hassen können! Sie müssen sich so sicher sein! Um zu hassen, braucht man absolute Gewissheit“, ruft sie, hochengagiert und gleichzeitig verzweifelt. Es ist eine Aussage der vor drei Jahren mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Publizistin Carolin Emcke, von ihr sachlich als Überlegung zu einer anonymen Gruppe von polternden Populisten geschrieben, die von Dörtkardes jetzt scheinbar in eine direkte Ansprache des anwesenden Publikums umgewandelt wird. Zuvor schon hatte Aylin Celik gerappt von „so viel Hass wo keiner hingehört“. In unseren Köpfen beginnt es zu rattern: Die Hass-Posts, die zunehmende Brutalisierung der Kommunikation vor allem, aber nicht nur in den sozialen Netzwerken – hat das etwas mit Gewissheit zu tun? Mit Selbstsicherheit? Mit fundierten Überzeugungen? Oder handelt es sich dabei nicht eigentlich um einen unreflektierten, unkontrollierten Abbau von Aggressionen? Dörtkardes verunsichert uns mit ihrer direkten Ansprache und macht uns nachdenklich.

Doch Antigones Gegenspieler Kreon ist nicht eigentlich ein Hassender. Man habe der Figur des König Kreon das Patriarchalische nehmen wollen, erläutert Theaterleiter Stefan Fischer-Fels im Gespräch mit theater:pur. Und so wird aus Kreon eine Queen. Natalie Hanslik, jung, gutaussehend, weiblich, wenn auch etwas androgyn geschminkt, steht kerzengerade und: selbstsicher im Parkett, eine tolle, stolze Königin. Sie hält eine tolle staatstragende Rede: „So übernehme ich die Macht, da nun Vernunft regieren soll.“ Queen Kreon stellt sich ihrer Verantwortung, sie entscheidet nach politischen Kriterien. „Als Königin muss sie so reden“, kommentiert Ugur Kepenek, als sie auch ihren Sohn Haimon von der Notwendigkeit zur Verurteilung Antigones zu überzeugen versucht. Doch Haimon, mit Antigone verlobt und bei Eduard Lind ein braves, angepasstes Bürschchen in kurzen Hosen, wird nach kurzer Bedenkzeit erwachsen und schließt sich Antigones Rebellion an.

Kreons Politikverständnis und sein Sicherheitskonzept für den Staat Theben sind nachvollziehbar, beruhen allerdings in erster Linie auf machtpolitischen Überlegungen. Kreon ist die Stimme der politischen Vernunft, und das Volk vermag das auch anzuerkennen. Nur fehlt Queen Kreon jede Empathie und jegliches Verständnis für den Familiensinn und für das Moralempfinden von Polyneikes‘ Schwestern. Spätestens als sie die junge Frau zum Tode verurteilt, schlägt sich das Volk auf die Seite Antigones. „Herz – Verstand, Herz – Verstand“, rappen Celik und Kepenek und benennen dabei nicht nur den Konflikt, dem der vor die Entscheidung zwischen seiner Verlobten und seiner Mutter gestellte Haimon sich gegenüber sieht, sondern auch die Quintessenz des gesamten Stücks. Ein bisschen mehr Herz und weniger Sturköpfigkeit bei Kreon, ein bisschen weniger Wut bei Antigone – vielleicht hätte man sich einigen können. Selbstverständlich stehen wir mit dem Volk auf der Seite des Herzens.

Antigone weiß, dass ihre Schwester Ismene die bravere von ihnen beiden ist. Sie weiht sie ein in ihr Vorhaben, will sie aber nicht in den gefährlichen Akt des Widerstands hineinziehen. Ismene drängt auf Ausgleich, wie es bei Sophokles im Buche steht. „I’m a big, big girl in a big, big world / it’s not a big, big thing if you leave me“ - berührend traurig singt Noëmi Krausz den Song von Emilia, als die endgültige Eskalation droht – und erkennt in diesem Moment, dass sie sich zu lange in die engen Leitplanken der Erwartungen ihres Umfelds hat zwängen lassen: eine schöne Frau zu sein, eine ehrgeizige Frau, eine kluge Frau – aber nicht sie selbst.

Sie wacht zu spät auf, um das Desaster noch verhindern zu können: Am Ende haben sich Antigone und Haimon selbst getötet; zu spät erkennt Queen Kreon ihre Verblendung. Anders als bei Sophokles ergreift Ismene nun das Wort: „Ich hätte etwas sagen sollen“, weiß sie nun. Sie ruft auf, sich einzumischen, sich nicht von den Mächtigen einlullen oder für dumm verkaufen zu lassen. Zum Ende der fetzigen, furiosen, temporeichen Inszenierung bittet sie um einen Moment der Stille. „Kämpft um euer Leben, bevor andere es bestimmen!“, appelliert sie an das Publikum. Das ist hingerissen von soviel Power, Pep und Wumms.