Der Verlust des Himmels
Es geht um die Bühnenadaption des 1992 erschienenen literarischen Meisterwerks des niederländischen Autors Harry Mulisch, das 2007 im Rahmen einer Leseraktion zum „besten niederländischen Buch aller Zeiten“ gewählt wurde. Im Kern des fast 900 Seiten starken Oeuvres steht der göttliche Entschluss, angesichts des üblen Treibens der Menschheit seinen dereinst mit Moses geschlossenen Bund aufzukündigen und die steinernen Gebotstafeln zurückholen zu lassen. Dazu bedarf’s allerdings sowohl der Engel als auch der Menschen und das bedeutet, dass sowohl das Himmlische als das Irdische, sowohl der Mythos als auch das Profane mitspielen müssen. Dabei verflicht Mulisch die Fülle der Themen und Handlungskomplexe zu einem vielschichtigen Gesellschaftsbild der zweiten Hälfte des zwanzigstens Jahrhunderts.
Wie all das auf die Bühne bringen?
Matthias Hartmann verzichtet bei seiner Düsseldorfer Inszenierung auf eine Bühnenfassung, arbeitete sich vielmehr mit seinen sieben grandiosen Schauspieler*innen in achtwöchiger Probenzeit durch das Opus Magnus und schafft so eine erspielte Romanerzählung, die ganz nah am Originaltext bleibt, die Figuren aber auch immer in leichter Distanz zur eigenen Rolle hält. Alles begleitet von kunstvollen Videos und Live-Musik am Klavier (virtuos Karsten Riedel).
Zunächst schauen wir auf eine geräumige, bis in den Zuschauerraum gezogene tiefschwarze Bühne, über der eine weitausladende, leuchtende Ellipse wie eine Planetenbahn schwebt, darüber der schwarzweiße Planet Erde. Erst wenn am Hintergrund zwei Wesen als riesige Schatten auftauchen, wird deutlich, dass vor der Rückwand eine unsichtbare Gaze-Bespannung als Projektionsfläche hängt.
Es beginnt der Prolog im Himmel - wir sind allerdings nicht in Goethes Faust, sondern in Mulischs Welttheater. Da begegnet uns freilich außer diesem, manch anderer Verweis auf kulturelles Erbe. So drängt sich etwa, wenn einer der Protagonisten, das Sprachengenie Onno, der Fontanelle seiner Mutter entstieg, der Anklang an den Mythos von Athenas Kopfgeburt auf.
In Mulischs Schatten-Himmel meldet der Unter-Engel Seraph (temperamentvoll gegeben von Serkan Kaya) seinem Engel-Chef Cherub, den Andreas Grothgar mit Witz und Würde auf die Bühne bringt, dass der „Auftrag erfüllt“ ist, will heißen: die Gesetzestafeln sind zerstört, der enttäuschte Gott zieht sich vom Pakt mit den Menschen zurück. Der Menschheit bleibt nichts als die Hölle. Wie’s dazu kam, erfahren wir im Erzählmodus auf der Bühne, hinreißend erspielt zwischen Ernst und Komik, zwischen dramatischem Spiel und bizarrer Karikatur (so etwa höchst komödiantisch Cathleen Baumann als verkrampfte Bibliothekarin Helga). Dazu gibt’s riesige schwarz-weiße Videos, die mal mit dicker Kreide Informationen fixieren, mal als Livecam das Geschehen doppeln oder mit abstrakter Bebilderung eine ganz eigene Ebene schaffen. Das wird allerdings gegen Ende der mehr als vierstündigen Aufführung weniger. Wenn dann schließlich die blauen Augen des Anti-Erlösers riesig in strahlendem Blau auf der sonst schwarz-weißen Projektionsfläche erscheinen, ist es schlicht Kitsch. (Video: Stephan Komitsch, Philippe Waldecker),
Zunächst aber erleben wir zwei brillante Schauspieler, die nichts als zwei schwarze Holzstühle brauchen, um uns die Geschichte ihrer Seelenverwandtschaft, ihrer aus dem Augenblick geborenen innigen Freundschaft zu erzählen. So unterschiedlich sie sind, der blond gescheitelte Dandy, Weiberheld und Himmelsforscher Max Delius (Moritz Führmann) und der struwwelige Privatgelehrte im langen Schlabbermantel Onno Quist (Christian Erdmann), von einem Moment zum anderen sind sie unzertrennlich, verlieben sich in die gleiche Frau , die Cellistin Ada Brons (hinreißend gespielt von Anna Sophie Friedmann), die dann einen Sohn bekommt, dessen Vater alle beide sein könnten. Nur die Zuschauer und die kommentierenden Engel wissen ja, dass das alles von oben gelenkt und arrangiert wurde. Denn dieser Sohn, Quinten Quist (blass gegeben von Jonas Friedrich Leonhardi) , der auf der Bühne in einem Ring wie Da Vincis Goldener Schnitt erscheint, ist der wahrhaft Auserwählte, der Vollbringer und Anti-Erlöser, der die Gebotstafeln in Jerusalem auftreibt und zerstört.
Trotz des „himmlischen“ Ansatzes blitzt auch die historische Familienwahrheit des Autors als allzeit präsente Last immer wieder auf. So trägt der Lebemann Max Delius unverkennbar autobiografische Züge des Autors: wie bei Mulisch ist Max‘ Vater ehemaliger österreichischer Offizier und gehört wie dieser zur Täterseite im Dritten Reich, während beide Mütter aus jüdischen Familien stammen. Im Roman wie im Stück pilgert Max nach Ausschwitz „der Kraftzentrale des Faschismus, der „Filiale der Hölle auf Erden“. Die dazu eingeblendete Dokumentation einer Judendeportation ist zwischen spaßig verfremdeten Liebesakten und Engelpersiflagen allerdings völlig überflüssig
So faszinierend und unterhaltend die Aufführung bis zur Pause ist, danach verliert sie ihren Zauber. Eine Fülle von Themen wird angerissen: da werden Luzifer zum Über-Gott, der “die Menschen besser kennt als der Chef“ und Francis Bacon 1583 zum „Propheten der neuen Zeit“. Während Ada nach dem Unfall auf der Bühne im Koma liegt, verführt ihre Mutter Sophia Brons mal eben den Lover der Tochter und erlöst sie dann durch eine Insulinspritze. (Thema: Sterbehilfe).Nach der Mondlandung geht’s nach Rom ins Pantheon und zur Sancta Sanktorum und schließlich nach Jerusalem, wo die Müllabfuhr das zerstörte Testimonium entsorgt. Was anfangs in epischer Breite dargeboten wurde, wirkt jetzt in der Fülle geraffter, oft nur angedeuteter Probleme eher oberflächlich und wenig ergreifend. Schade. Weniger wäre mehr. Das Publikum jubelte dennoch.
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