Übrigens …

365falls im Düsseldorf, Forum Freies Theater

Vom Slapstick bis zur Apokalypse

An der Videowand wird von 365 an rückwärts gezählt. Am Ende der 110 Minuten landen wir irgendwo in der Region von minus 5673. Die Differenz ist die Zahl der Stürze, der fallenden Menschen und Gegenstände, die wir sehen: Federn und Performer, Bilder und Brotkrumen, Bügeleisen und Blütenblätter. Und Unterhosen – ausgezogen haben sich die Performer von Via Negativa ja immer schon gern. Auch eine Zuschauerin wird unsanft auf dem Boden landen: Einer der Performer zieht ihr (natürlich nach einer stillen Verabredung) den Stuhl unterm Hintern weg. Manchmal ist das Slapstick, manchmal Clownerie, manchmal ein Zitat, manchmal eine Metapher. Vor allem ist es überraschend unterhaltsam.

Das Forum Freies Theater Düsseldorf und die slowenische Performance-Gruppe Via Negativa verbindet seit der Spielzeit 2010/2011 eine regelmäßige Zusammenarbeit. Damals präsentierte das FFT seinen Zuschauern die provokante, sich als avantgardistisch empfindende Truppe an drei aufeinanderfolgenden Abenden mit einer längeren Performance und acht kurzen Arbeiten. Der Schreiber dieser Zeilen durchlitt alle drei Abende – inklusive Live-Pinkeln frontal vor dem Zuschauer und einer Performance, die aus nichts anderem bestand als aus einer öffentlich und ohne Fake bis zum spritzigen Höhepunkt vorgeführten maskulinen Masturbation. Das schrie nicht gerade nach einer Wiederholung des Theaterbesuchs. Aber wie das so geht bei einem stets zum Masochismus neigenden Theaterkritiker: Nach neun Jahren war die Sucht nach neuen, nie dagewesenen Provokationen wieder so groß, dass der Unterzeichner ungeplant und spontan zur Kasse ging und um ein Ticket bettelte.

Doch nüschte war’s mit Provokation. Fallende Blätter spielen im Wind. Mit einer gewissen Koketterie lässt eine Performerin ein Bügeleisen vom Bügelbrett rutschen. Der Typ im Brasilien-Trikot mit der Rückennummer 9 (bei der letzten WM war das Gabriel Jesus von Manchester City) wird nicht gefoult, sondern lässt selbst etwas fallen. Zu den Bilderstürzen gehören ein Titelbild von TIME mit dem ikonographischen Einstein-Foto und das nicht minder ikonographische Bild des sozialistischen Bruderkusses zwischen Breschnew und Honecker – den Sturz eines Regimes mag man sich dazu denken, oder gar den Fall einer ganzen Ideologie. Auch der Sündenfall ist ein Sturz: Eva, nackt unterm Mantel, beißt in einen Apfel, ein paar Stückchen fallen herunter. Eine Dame aus besseren Kreisen wird ebenfalls ausgezogen und zur Kaiserin ohne Kleider, aber ihr Sektglas hält sie fest.

Anita Wach übt Bull Riding auf dem Rücken von Grega Zorc und umgekehrt. Sowas endet immer mit einem Sturz, und wenn man unbedingt will, kann man auch hier eine existenzielle Bedeutung hineininterpretieren – das Leben endet immer mit dem Tod und (fast) jeder Aufstieg mit einem tiefen Fall. Vier Performer rütteln sich und schütteln sich, wackeln mit dem Hintern, den Brüsten und allem, was ihnen sonst noch zur Verfügung steht, bis dass die an ihre Körper geklebten Zettel zu Boden fallen: Sie stehen für „Tragedy“, „Opera“, „Ballet“ und „Comedy“. Auch das Theater ist voller gewollter, aber noch mehr ungewollter Stürze – dass im FFT manche Zettel hartnäckig kleben bleiben, ist wohl eher ungeplant. Obwohl es ja Mimen gibt, denen die Nachwelt noch lange Kränze flicht…

Nochmals: Das ist alles überraschend unterhaltsam. Manche Szenen wirken banal, manche sogar ein wenig poetisch, und wenn man zu Beginn eher Slapstick und Clownerie wahrnahm, ist man zunehmend bereit, Zitate und Metaphern zu erkennen - aus der Bibel, aus der Literatur, aus der Politik. In ihren Begleittexten blasen Via Negativa das zu bombastischer Bedeutung auf. Ihr Abend über Bewegung, Balance und Standfestigkeit untersuche „das paradoxe Verhältnis zwischen der Notwendigkeit von Veränderung und dem Wunsch nach Stabilität.“ Er zeige „das politische und kulturelle Europa, das danach strebt, die Balance zu halten … und … die bestehenden (Macht-)Verhältnisse zu stabilisieren.“ Solche Ankündigungen helfen der Aufführung nicht, denn sie wecken zu große Erwartungen. Im Netz werden als Inspirationsquelle für den Abend die Stürze von Gerald Ford von der Flugzeugtreppe und von Fidel Castro im Mausoleum von Che Guevara ebenso genannt wie Angela Merkels zusammenbrechender Stuhl bei den Bayreuther Festspielen, von dem man ja bis heute nicht so genau weiß, ob zuerst der Stuhl oder zuerst die Angela zusammengeklappt ist. Eigentlich hätte man Peter Altmaiers eineinhalb Wochen vor dem Düsseldorfer Gastspiel absolvierten Flug von der Dortmunder Digitalgipfel-Bühne ja noch einspielen können, aber so fix waren die Slowenen nicht. Statt Altmaier haben Buster Keaton und der „Gravity Art“ Künstler Jan Bas Ader, den die Schwerkraft bei einer Atlantik-Überquerung im Segelboot für immer auf den Grund des Meeres gezogen hat, die Gruppe inspiriert. Vielleicht zieht sie solche Vergleiche ja mit einem Schmunzeln. Große Behauptungen haben Künstlern ja noch selten geschadet, selbst wenn die Betrachter die Belege für diese Behauptungen in ihrem Werk so wenig finden wie Kinder im Garten den echten Osterhasen. Dem großen politischen Bogen, den Via Negativa zu ziehen behauptet, werden die Jungs und Mädels jedenfalls kaum gerecht.

Immerhin häufen sich im Laufe des Abends die düsteren Szenen. Vier Performer sind an Tischen zusammengebrochen, haben den Kopf auf der Tischplatte und lassen einen Alltagsgegenstand fallen, den sie in der leblos herabhängenden Hand halten: eine Tasse, ein Milchkännchen, ein Mobile Phone – und einen Rosenkranz(!). Vanitas-Bilder, Szenen von Tod und Folter werden dargestellt, die Schauspieler drapieren sich auf dem Boden wie Leichen auf einem Schlachtfeld. Drei Nackte hängen an Seilen und werden mit Stroboskoplicht und einem unangenehmen Sound traktiert. Aus anfänglichem Witz wird ein Bild von Apokalypse und Zerstörung. Ein Spielzeug-Gespenst lacht dazu. Erst sind wir aus dem Paradies gefallen, jetzt fällt die ganze Welt. Zuletzt schwebt Loup Abramovic zu klassischer Musik an einer Konstruktion aus Gewichten und Seilen. Das wirkt zunächst endlich wieder leicht und hell. Doch wie Ikarus scheitert auch Abramovic kläglich beim Versuch des Fliegens.