Übrigens …

Der Schimmelreiter im Theater Gütersloh

Die Banshee mit dem Plastik-Pferd

Im Dorf mag man ihn nicht, den Hauke Haien. Der Außenseiter wäre heute der unbeliebte Streber in der Schule. In Theodor Storms nebelwallender Nordsee-Novelle Der Schimmelreiter beschäftigt er sich mit Arbeit und Struktur auf Papas Hof statt sich mit Freunden in der Kneipe zu treffen. Sein Sozialverhalten ist ausbaufähig: Er bringt auch mal eben aus nichtigen Gründen den Kater von Trien‘ Jans um, bloß weil der ihm einen Vogel geklaut und katertypisch aufgefressen hat.

Hauke Haien ist aber auch ein cleveres Kerlchen - und ein ehrgeiziges zudem. Er lernt Niederländisch, liest Euklid und verfügt über herausragende Rechenkünste sowie Weitblick im Hinblick auf die strategische Karriereplanung und die operative Dorf-Entwicklung. Das sollte man von dem Sohn eines einfachen Kleinbauern gar nicht erwarten. Seine Herkunft ist allerdings auch sein Problem: Er hat nicht genug „Kleie unter den Füßen“, wie man im Dorf sagt. Hauke scheint alle Qualifikationen für die Nachfolge des alten Deichgrafen zu besitzen, doch für diese Position benötigt man traditionell auch eine Menge Landbesitz.

Hauke weiß sich zu helfen. Oder sagen wir: Seine Kompetenz und seine Neigungen kommen ihm schnell zu Hilfe. Er verdingt sich beim alten Deichgrafen als Knecht, fällt dort durch seine mathematischen und planerischen Fähigkeiten auf und sticht den Großknecht Ole Peters spielend aus. Ohnehin nicht allzu beliebt im Dorf, hat er sich damit einen Feind fürs Leben geschaffen. Aber eine treue Gefährtin findet er auch: Elke, die Tochter des Deichgrafen. Die Väter von Hauke und Elke sterben kurz nacheinander, Elke heiratet Hauke - und schwupps, hat er durch doppelte Erbschaft genügend Land, um den von einschlägigen Kreisen betriebenen Widerstand gegen seine Beförderung zum neuen Deichgrafen ins Leere laufen zu lassen. Doch Hauke hat nicht nur genug Land, sondern er hat auch ein Pferd. Es ist der Schimmel, der im Titel von Theodor Storms Novelle als Reittier auftaucht und der bei der abergläubischen Dorfbevölkerung über einen schlechten Ruf verfügt. Er soll des Teufels sein oder gar der Teufel selbst. Denn das Pferdeskelett auf der nahen Hallig soll just in dem Moment verschwunden sein, als Hauke einem merkwürdigen Reisenden den Zossen abgekauft hat. Reitet Hauke ein mephistophelisches Phantom?

Hauke hat schon in früher Jugend erkannt, dass die Deiche des Dorfes einer Extremwetterlage nicht standhalten werden. Sie sind zu steil gebaut, so dass das Wasser bei orkanartiger Sturmflut mit zu viel Kraft auf den Schutzwall treffen würde. So plant Hauke einen neuen, flacheren Deich und entwickelt Konzepte zur Vergrößerung des Küstenschutzes und zur Landgewinnung. Er trifft auf eine veränderungsresistente Landbevölkerung, angeführt von seinem Rivalen Ole Peters, und ist, kopfgesteuert und wenig empathisch wie er nun mal ist, nicht in der Lage, diese zu überzeugen. Kraft seines Amtes und einer gewissen Arroganz setzt der den neuen Deich dennoch durch - und setzt ihn neben den weiterhin bestehenden alten. An der Nahtstelle wird der brechen - und Hauke, seine durch die Geburt eines geistig behinderten Kindes zwar gebrochene, aber immer noch fest an seiner Seite stehende Elke und Tochter Wienke in den Abgrund reißen. Die abergläubische Bevölkerung hatte es ja gleich gesagt: Er hätte „etwas Lebiges“ im Deich verbuddeln müssen. Zumindest einen lebenden Hund hätte er dafür opfern sollen. Jetzt lebt das ganze Dorf nicht mehr. Das Pferdeskelett ist aber wieder da.   

Es ist also eine wahre Schauernovelle, die Alize Zandwijk am Theater Bremen inszeniert hat. Und die nimmt gleich in der ersten Sekunde durch ihr optisches Erscheinungsbild gefangen - nicht nur durch die großartigen Masken, die zu Beginn alle Figuren tragen, als ob sie nicht mehr von dieser Welt wären. Erst nach und nach nehmen die Schauspieler diese Masken ab und werden dann zu Menschen, deren Charaktere zum Teil noch im Heute zu finden sind. Die anfängliche optische Überwältigung ist aber vor allem begründet in der merkwürdigen Kombination aus Romantik und Müll, die Bühnenbildner Thomas Rupert geschaffen hat. Gewaltige Sturmwolken bilden den Hintergrund; noch im Parkett kann man sich von ihnen bedroht fühlen. Die Marsch ist „öde und von allem Vieh geleert.“ Darüber hängt der riesige zerklüftete, aber blasse Flutmond. In einem kahlen Caspar-David-Friedrich-Baum hängen ein paar Plastiktüten. Gar Hunderte davon bedecken den Boden: Sie schwimmen nicht nur in der Nordsee und in den Weltmeeren, hier bilden sie die Nordsee. Vom 21. Jahrhundert aus betrachtet, ist Theodor Storms 130 Jahre alte Erzählung auch ein Text über den Klimawandel und eine Warnung über unseren Umgang mit der Natur.

Erfreulicherweise ist dies jedoch nicht der Schwerpunkt von Zandwijks Inszenierung, die jetzt am Theater Gütersloh gastierte und am 28. Januar 2020 im Konzert Theater Coesfeld erneut in NRW zu sehen sein wird. Die Regisseurin erzählt eine Geschichte über reaktionären Aberglauben und unreflektierte Fortschrittsgläubigkeit, über Verantwortungsbewusstsein und übersteigerten Ehrgeiz, über missionarisches Commitment für den Job bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Familie. John von Düffel hat Theodor Storms Novelle in seiner Bearbeitung entschlackt und die Rahmenhandlung mit Ausnahme einer suggestiven Schilderung des Schimmel-Spuks gestrichen. Ansonsten folgen Text und Zandwijks Inszenierung eng dem Handlungsgerüst von Storms Novelle. Und das Erstaunliche ist: Kriegten wir bei Lehrer Franik in der Mittelstufe noch lange Zähne beim zwangsweisen Konsum des altmodischen Textes, so hat Zandwijks Inszenierung mit einer Nettospielzeit von ca. zwei Stunden (eine überflüssig erscheinende Pause abgezogen) nur wenige Längen. Fast durchgängig vermögen die Figuren das Interesse des Zuschauers zu bannen. Denn das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen den handelnden Personen ist es, dem Zandwijks besondere Aufmerksamkeit gehört.

Haukes verbissene, ausschließliche Konzentration auf die Arbeit bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das harmonische Familienleben. Vielleicht ist sie gar der tiefere Grund für die Schwierigkeiten des Ehepaars, ein Kind zu bekommen. Großartig wandert Nadine Geyersbach auf dem Grat zwischen der hundertprozentigen Loyalität zu ihrem Ehemann und dem Leiden an einem unerfüllten Familienleben. Alexander Swoboda ist als Hauke Haien vielleicht nicht mehr ein Mann von heute, aber ein Mann von vor wenigen Jahren: mit einer Weltsicht, die noch eine Generation vor uns dominierte. Sein Pflichtbewusstsein ist vor allem auf seine Arbeit als Deichgraf gerichtet. Zu Hause hat er ja eine tüchtige, zuverlässige Ehefrau, die ihm den Rücken freihält und ihn sogar in seiner Arbeit (vor allem seiner Konfliktbewältigung) noch zu unterstützen versteht. Er findet sich leichter mit der Behinderung seiner Tochter ab als seine Frau, wird ja auch von der zusätzlichen Arbeit, die die Behinderung verursacht, nicht belastet. Aber unzweifelhaft liebt er seine Familie, nur findet er keine Zeit dazu, diese Liebe auszudrücken. Als der Intellektuellste des Dorfes entwickelt er Ehrgeiz und Veränderungswillen - im Grunde wäre es schlimm, wenn er seine Anlagen nicht entsprechend nutzen würde. Aber intellektuelle Überlegenheit wird von der Umwelt als Arroganz empfunden - und sie führt zu Leichtsinn bei Entscheidungen, denn die Gegner sind ihm argumentativ nicht gewachsen und nähren ihre Argumente aus vorsintflutlichem Aberglauben und Festhalten an überkommenen Traditionen. Swoboda stellt diese komplexe, aber irgendwie auch „normale“ Persönlichkeitsstruktur so selbstverständlich dar, dass die Virtuosität seiner Charakterzeichnung fast der Aufmerksamkeit entgeht. Martin Baums Ole Peters, von Hauke Haien aufgrund von dessen größerer Kompetenz zur Seite gedrängt, sinnt auf Rache und sammelt seine Truppen hinter sich. Von durchschnittlicher Intelligenz, Knecht nur, aber immerhin Großknecht, hält er sich an einem mediokren Statusdenken auf, aber Baum gibt ihn als die natürliche Führungsfigur der Opposition, ein wenig verdruckst, aber ohne seine negative Rolle zu dämonisieren. Auch solche Figuren treffen wir noch heute in jedem Betrieb.

Die übrige Dorfbevölkerung dagegen ist gefangen in ihrem Aberglauben und ihrer Bigotterie. Sie gehört zu der Fraktion, die das Schauermärchen-Motiv von Theodor Storm in der Inszenierung verkörpert. Zandwijk bedient dieses Spuk-Motiv geschickt. Es ist ein großartiges Bild, wenn sich aus dem Müll plötzlich Plastik-Pferde erheben, aus dem gleichen dünnen Stoff wie die überall herumliegenden Einkaufstüten. Erwartbar ist es ein Schimmel zunächst, den die Windmaschine aufbläst, doch später, als der Sturm sich erhebt und der Untergang naht, ist auch ein Rappe dabei. Tochter Wienke taucht schon lange vor ihrer Geburt auf. Susanne Schader sitzt auf einer in den kahlen Baum gehängten Schaukel; in einem zarten Bild streichelt sie später den aus dem Wind sich erhebenden Schimmel. Vielleicht ist ihr Erscheinen eine Halluzination, vielleicht ein Menetekel. Im langen weißen Hänger und mit knielangen braunen Haaren wirkt Schrader wie eine Art Banshee. Auch Maartje Teussink, die die Inszenierung zunächst vom rechten Bühnenrand aus mit der Klarinette, der Gitarre oder dem Kontrabass und wundersamen Liedern begleitet, wandert später durch das Bühnenbild als wolle sie eine untergegangene Welt besichtigen. Suggestiv gerät wieder der Schluss. Der Sturm bläst, die Schauspieler verteilen sich auf der Bühne und berichten von einer Apokalypse. Dass die Handlung zwischenzeitlich einmal ein wenig betulich voranschritt, ist da längst vergessen.

(Die Inszenierung steht im Theater Bremen noch am 16. November sowie am 5. und 12. Dezember auf dem Spielplan)