Übrigens …

Henry VI & Margaretha di Napoli im Schauspielhaus Düsseldorf

Das Weichei mit der starken Frau

Heinrich V., der gerechte, umsichtige und volksnahe König von England, ist tot. An seinem Grab kniet sein Sohn, ein Kind noch: André Kaczmarczyk in kurzen Hosen, mit roter Strickmütze über den Ohren und einer Stoffpuppe im Arm. Dunkel ist’s, und in den folgenden drei Stunden wird es im Reiche England nicht hell werden. Staub, Sand, Dreck bedeckt die fast leere Bühne. Links hat der junge König - denn dazu wird Heinrichs Sohn, jetzt Heinrich VI., der monarchistischen Erbfolge gemäß gekrönt - sein Matratzenlager. Daneben schimmert verloren ein kleiner Globus - das Britische Weltreich ist noch fern, und wären alle Könige wie der junge Henry, hätte Englands Geschichte einen weniger gloriosen Verlauf genommen. Staub, Sand, Dreck wirbeln auf, Nebel wallt, und aus dem Unterboden erhebt sich eine riesige eiserne Krone, die nahezu während der gesamten Aufführung mittig über der Szenerie schwebt. Eine Krone, viel zu schwer und groß, um einem Sterblichen zu passen...

Wie erst muss die Last der Krone und der mit ihr verbundenen Erwartungen einen König drücken, der so antriebslos und harmoniesüchtig ist wie Heinrich VI., so vergeistigt, so… ja: Ist er eigentlich arglos? Schon im Kindesalter am Grabe seines Vaters ist er umgeben von den intriganten Würdenträgern des Reichs. Vielleicht ist er da noch ohne Arg, doch muss er die ungute Aura um ihn herum spüren. Die Intrigen werden ihn begleiten, und Heinrich kann kaum so dumm sein, dass er nicht erkennt, welche Gefahren daraus für das Reich und für ihn selbst entstehen. Es ist wohl eher so, dass er verdrängt - aus Harmoniesucht? Aus Feigheit? Aus tiefer pazifistischer Überzeugung? - Ein Bücherstapel liegt neben seinem Bett - Heinrich liest: Dumm wird er also nicht sein. Doch er liest sogar, während die anderen über die Kriegstaktik streiten, und es sind nicht die Werke über die Kunst der Kriegs- oder der Staatsführung, die er studiert. Es ist vor allem die Bibel, und aus dieser sind es die beschwichtigenden, mäßigenden Weisheiten, die er zitiert und die in der Schlangengrube seines Hofstaats für Unverständnis sorgen. Machtanspruch hat der auf naive Weise friedensbewegte König nicht, und Führungsbewusstsein schon gar nicht.

Herr Heinrich sitzt am Vogelherd (die „Schnepfenjagd“ ist eine der wenigen witzigen Szenen des wuchtigen Abends), tauscht Schwerter mit Rosenkränzen, und um ihn herum tobt der Intrigantenstadl. Das Machtvakuum, das der König hinterlässt, will ausgefüllt werden. Zuvörderst sind es die beiden Onkel, die um Einfluss auf die Staatsgeschäfte ringen. Rainer Philippi gibt den vordergründig loyalen, unbestechlichen Gloster, der als Reichsprotektor mit buchhalterischer Genauigkeit die Regierungsgeschäfte für den jungen König führt und zusammenzuhalten versucht, was kaum noch zusammenzuhalten ist. Gloster ist der Mann des Staates, sein Gegenspieler ist der Mann der Kirche. Florian Langes Bischof Winchester agiert mit kontrollierter Offensive. Aus keinem seiner Wortbeiträge kann man ihm einen Strick drehen, aber in jedem Moment ist sein hinterhältiges Kalkül spürbar. Jan Maak wiederum gibt den Herzog von York als einen grobschlächtigen Typen, der sich nur mühsam zu Diplomatie und Selbstkontrolle zwingt. Er steht häufig ein wenig abseits und drückt mit seiner Mimik den Widerwillen gegen das Weichei Heinrich und das Getue seiner Berater zum Ausdruck. Glosters Gattin Leonore übernimmt die Erziehung des jungen, mit dem Tod seines Vaters zur Waise gewordenen Königs - andeutungsweise auch in sexueller Hinsicht - und leitet ihn geschickt in ihrem Sinne. Sie ist zupackender bei der Verfolgung eigener Interessen als ihr Mann, der ihr viel zu klein denkt. Leonore denkt größer, doch ihr Traum von späterer Königinnenwürde und die Teilnahme an einer spiritistischen Sitzung (von der Lichtregie und der Musik von Karsten Riedel großartig imaginiert) wird ihr zum Verhängnis. Minna Wündrich macht die schillernde Frauenfigur zum schauspielerischen Glanzpunkt vor der Pause, wird aber trotzdem als Hexe festgenommen und verbannt. Ihr Gatte Gloster wird von Henry nicht zuletzt aufgrund der Einflüsterungen des Bischofs entlassen. Die innerfamiliäre Loyalität zwischen Leonore und Gloster ist zum Teufel: Die gegenseitige Zurückweisung und Verletzung wird in David Böschs Inszenierung fast kammerspielartig gespielt, doch erstmals an diesem Abend spürt man auch im Zuschauerraum die Unerbittlichkeit des Lebens am Hof.    

Mit der Königinnenwürde wird es nichts für Leonore. Sie hatte Henry aus Gründen der Staatsraison Ghislaine d’Armagnac zur Gattin empfohlen - wenn man Heinrichs Vertrautem Herzog Suffolk glauben darf, „kein Weib mehr, sondern ein Elefant“. Suffolk schleppt ein anderes Weibsbild an. In der grauen Kutte der Gefangenen wird Margaretha di Napoli auf die schmutzige Bühne geworfen. Sonja Beißwenger erhebt sich aus dem Staub: stolz, aufrecht, mit einem Anflug von Sarkasmus. „Die muss gewonnen werden“, ruft Suffolk aus und verkuppelt die starke Frau mit dem schwachen König. Es ist wohl Liebe auf den ersten Blick - nein, nicht zwischen Heinrich und Margaretha, sondern zwischen Greta und Suffolk. Er dreht dem schwachen König seine Mätresse an, um erotische Befriedigung mit der Nähe zur Macht zu verbinden. Wobei Sebastian Tessenows Suffolk und Sonja Beißwengers Margaretha in ihrer offensiven Erotik durchaus zueinander passen: Das sexy Brautkleid, das zehn Zentimeter über dem Knie endet, und die schicken Hochzeitsstiefel sind schon ein Statement der Dame mit den feurigen Augen…

Die bringt zwar keine Mitgift in die Ehe (ganz im Gegenteil!), aber dafür den Machtanspruch, der Henry VI. fehlt. Der Intrigantenstadl geht jetzt erst richtig los, und Margarethe, enttäuscht von der (auch sexuellen) Schwäche des Königs mischt kräftig mit. Zum Führen geboren, qua Herkunft und Geschlecht zumindest zeitweilig am Handeln gehindert, wächst ihre Frustration, aber auch ihre Entschlossenheit. Heinrich dagegen wird zur Marionette der Herzöge. Bei André Kaczmarczyk erweckt er nicht den Eindruck, als spüre er das nicht, doch vermag er sich nicht zu wehren. Der verschlagene Bischof schwingt sich zum Leader auf. Heinrich erkennt, wie allein er auf der Welt steht. Die Loyalität seiner Frau besitzt er nur noch formal: „Sind du und ich noch eins?“, fragt er. Ihre zögerliche Antwort ist doppeldeutig: „Selbstverständlich. Niemand kann uns trennen.“ Im 15. Jahrhundert kann man sich bei Königs nicht trennen, nur töten. „Vor heißen Feuern schmilzt mein Mann wie Schnee“, klagt Margaretha.

André Kaczmarczyk spielt die Verlorenheit seiner Figur und ihren inneren Konflikt überzeugend. Das groteske Missverhältnis zwischen Friedensbewegtheit und Führungsverweigerung führt in die Katastrophe. Tom Lanoye hat Shakespeares dreiteiliges Mammut-Drama nicht nur geschickt gekürzt, modernisiert und zugespitzt, sondern ihm durch die Aufwertung der Figur der starken Königin Margaretha und die Fokussierung auf den Konflikt zwischen Macht und Moral einen neuen Schwerpunkt gegeben. Dank der durchweg überzeugenden schauspielerischen Leistungen bleibt man gern am Ball und folgt der Handlung interessiert. Doch was das Düsseldorfer Ensemble und David Böschs Regie zu leisten in der Lage sind, zeigt sich nach der Pause. Gelangweilt träumt Margaretha von Bella Italia, flucht auf „Bloody Britain“ und ahnt nicht, wie recht sie damit hat. Das Theaterblut fließt nun literweise. Die Aufführung wird vielseitiger und dringlicher, ironischer und unerbittlicher. Zunächst einmal tummeln sich schüchterne Freier an Margarethas Hof wie bei Penelope im Trojanischen Krieg. Margaretha sehnt sich nach der Liebe von Suffolk (und wird bald von ihm geschwängert); der impotente Heinrich ist eifersüchtig und wird immer zappeliger. Heinrich steht mit seiner fast schon fundamentalistischen Religiosität auf verlorenem Posten: York, der seinen Anspruch auf die Königswürde geltend macht, und Margaretha, die bei Sonja Beißwenger immer mehr zur Furie wird, bekämpfen sich bis aufs Messer, doch Henry versucht fundamentale Konflikte als Missverständnis zu deklarieren. „In diesem Land lebt nicht ein einziger Mann“, tobt die Frau mit den feurigen Augen verächtlich, als Somerset (Kai Götting) zögert, den mit ihr konkurrierenden Herzog von York zu töten.   

Doch den echten Mann werden wir noch kennenlernen. Denn es folgt der grandiose Auftritt von Lieke Hoppe. Die war schon im ersten Teil im weißen Kleid zu ätherischer Musik über die Bühne getänzelt, ein Traumbild im Kopf des jungen Heinrich, und hatte dann virtuose Schwertkämpfe bestritten. Da war sie die Jungfrau von Orleans, die in Frankreich auf der Seite von König Charles gegen die Engländer kämpfte. Dann war sie Yorks kleiner Sohn Roland, ein eher süßes Papa-Kind. Jetzt aber ist sie ein Monster. Tom Lanoye lässt auf Heinrich den Sechsten Richard den Dritten folgen. Lieke Hoppe macht daraus ein furioses Husarenstück, das zum Intensivsten zählt, was wir in dieser Spielzeit auf den nordrhein-westfälischen Schauspielbühnen sahen. Bucklig und getapt am ganzen Körper, beschreibt sie in vulgärer Sprache sich selbst: „Spasti, Missgeburt, Hackfresse!“ Ihr Richard wütet, stottert, spuckt - bei psychologischer Herangehensweise ließe sich ein solches Monster mit der traumatischen Erfahrung der Ermordung des Vaters erklären. Den trifft Richard als Denkmal wieder: aufgespießt auf ihren Schwertern starren die abgeschlagenen Köpfe von York und Roland ins Land. Heinrich, im weißen Hemd des tumben Toren, begreift immer noch nicht, dass es klarer Führung bedurft hätte, um sein Volk zu befrieden und zu überzeugen. Per Kopfstoß streckt Richard ihn nieder und beißt ihm die Kehle durch. Und Margaretha, die so hart gekämpft hatte, um sich ein kleines Stückchen von der Macht zu sichern, steht da mit der Leiche ihres von Richard getöteten Kindes und sieht nun ein: „Wir beide waren allzu klein für diese Krone. Man wird von ihr zerquetscht.“ Längst ist die über der Szene dräuende eiserne Krone blutbeschmiert.