Ein Ungeheuer auf Gottsuche
Es ist der zweite Spielort nach der Melanchthonkirche für die mobile Inszenierung des Parzival von Tankred Dorst: die Hochschule Düsseldorf. Ein hochmoderner Bau. Der Aufführungsraum eine angedeutete Halle: auf einer Seite Stufen in Sitzhöhe, auf denen man sitzen, gehen oder stehen kann. Offen zum Eingangsbereich, kann jeder ungefragt rein und raus, auf einem Ständer liegen die Programmhefte, die man im Vorbeigehen mitnehmen kann.
Im vorderen Bereich steht im freien Raum eine leicht angewinkelte Bühne mit hoher Rückwand, darin ein großes rundes Loch, das später als Projektionsfläche für Livecam-Aufnahmen, Videos oder einfach als Guckloch in eine geheimnisvolle, entrückte Welt genutzt wird. Das Ganze in schlichtem Grau dient in den nächsten gut zwei Stunden als Simulationsraum für Wald oder Wüste, für Hütte oder Artushof, für Traum - und Geisterwelt - oder Schlachtfeld - gelegentlich allerdings mit Video-Unterstützung. Wahrhaft faszinierend gelingt dieser ständige Weltenwechsel, dieses Spiel zwischen Realität und Fiktion, zwischen Möglichem und Unmöglichem, zwischen Brutalität und Heilssehnsucht, das der Regisseur und Videokünstler Robert Lehniger hier im theaterfremdem Raum vor einem ungewöhnlich jungen Publikum inszeniert.
„Dann wollen wir doch mal“, meint unvermittelt in den erleuchteten Raum hinein ein Mann in zivilem grauen Rolli, der ganz nah am Publikum auf einer hohen Leiter sitzt, und sich als Zauberer Merlin vorstellt (virtuos: Jürgen Sarkiss). Er hat sich eine Aufgabe gestellt: gegen den Willen seines teuflischen Vaters will er die Utopie immerwährenden Friedens auf Erden verwirklichen und gründete dazu die Tafelrunde, die allerdings im Laufe des Stückes nicht als königliche Festrunde, sondern eher als ordinäres Gelage rund um das Kulissen-Loch eingeblendet wird. Zunächst aber entführt er uns - gleichsam als „Spielmacher“ und Zauberer - in die Dorstsche mythische Zeitlosigkeit, und startet den phantastischen Bilderbogen des Geschehens, in dem wir in der ersten „Lektion“ dem Protagonisten, dem jungen Parzival begegnen. Von seiner Mutter als „tumber Tor“ von allen menschlichen Erfahrungen ferngehalten, wurde er zum „Wolfsjungen“ ohne Wert- und Weltorientierung. Während Parzival in der dichterischen Vorlage des Stückes, in Wolfram von Eschenbachs wirkungsmächtigem Versepos aus dem Jahr 1210, der schönste aller Männer ist, war doch „seit Adams Zeiten noch nie ein Mann so unvergleichlich schön“ wie er, ist er in dieser Inszenierung eher ein monströses Kind, dessen Wissen sich auf das Nachahmen von Tierlauten beschränkt. Henning Flüsloh spielt diesen Parzival brutal unbarmherzig ohne Empathie oder Mitgefühl für ein anderes Wesen. Zwei Ritter, denen er im Wald begegnet, erscheinen ihm, dem Ahnungslosen, als „Engel“, und er beschließt, wie sie zu werden. Er hört vom Heiligen Gral und von Gott, und er will für sich das Größte und Mächtigste. Ohne jegliches moralisches Bewusstsein, fühllos wird er zum Mörder, Dieb, Frauenschänder und Brandschatzer. Dabei führt uns das Stück in scheinbar bunter Zufälligkeit durch Zeiten, Träume, Phantasien. Merlin, der Zauberer, dreht die Zeit einfach mal zurück zu den Anfängen oder projiziert das mögliche Zukunftsszenario des greisen Parzival als Gralskönig auf die Bühnenwand. Grandios, wie die Inszenierung mit den technischen Effekten spielt und Sehgewohnheiten ausreizt. Da fliegen auch schon mal „blutige“ Körperteile, sei es ein Finger, Fuß oder Kopf, in Richtung Publikum. Um Parzival herauszufordern, ihn zu Entscheidungen zu drängen, Erkenntnissen zu ermöglichen oder ihm Bewährung abzuverlangen, verwandelt sich Merlin kurzerhand in einen Grals-König-Fischer oder in den „Nackten Heiligen“, der aber dann doch gar nicht so heilig ist, weil er Frau und Kinder verließ und ins Elend stürzte. Tankred Dorst steht zum fantastischen Realismus als dramaturgischem Prinzip und so bleibt uns als Zuschauer nur, mit ihm die Welten zu wechseln, Mythen und Märchen auch einmal realistisch und die Realität ein wenig fantastisch zu sehen. Denn „Märchen sind oft viel welthaltiger und die Realität ist viel fantasiebesetzter als man gemeinhin denkt“, wird Tankred Dorst im informativem Programmheft zitiert.
Obwohl Parzival in dieser Inszenierung den Gral als blaue Scherbe (von einer Taschenlampe erleuchtet) schon ganz real in Händen hält und auch tatsächlich vor dem leidenden, auf Erlösung hoffenden Gralskönig Amfortas steht, verweigert er die erlösende Frage: „Oheim, was wirret dir? Oheim, was fehlt dir?“. Noch fehlt ihm die Fähigkeit, sich auf andere einzulassen, Mitleid zu empfinden.
Tankred Dorst lässt es bewusst offen, ob Parzival sein Ziel, den Gral zu finden, erreicht. Doch lässt er ihn am Ende des Dramas sagen: “Ich kann sehen, fühlen. Ich blicke in den leeren Himmel mit den Augen der Menschheit.“
Warum sollte das nicht das Ziel des klugen Merlin gewesen sein: Parzival zu sich selbst zu führen?
Es ist die dritte mobile Inszenierung - nach Faust und Nathan -, mit der das Schauspielhaus auf Einladung die unterschiedlichsten Orte bespielt. Diese offene Halle in der HSD war zweifellos eine ungewöhnliche Herausforderung, die das Ensemble sowie die Technik glänzend meisterten.
Das junge Publikum war begeistert.