Übrigens …

Der Widersacher im Dortmund, Schauspielhaus

Annäherung an ein Monster

Am 9. Januar 1993 erschlug Jean-Claude Romand seine Ehefrau Florence im gemeinsamen Schlafzimmer. Später weckte er seine Kinder, sie frühstücktengemeinsam und schauten Cartoons. Danach brachte er sie ins Kinderzimmer und schoss den beiden in den Kopf. Anschließend fuhr er zu seinen Eltern, tötete sie ebenfalls mit der Schusswaffe.Vierundzwanzig Stunden später goss er Benzin ums Haus, legte das Feuer und nahm Schlafmittel, die bereits zehn Jahre abgelaufen waren.

So sachlich, fast schon lakonisch beginnt die „non-fiction novel“ des französischen Autors Emmanuel Carrère, und so sachlich, fast schon lakonisch beginnt die Annäherung an das Verbrechen im Schauspiel Dortmund. Doch sowohl das Buch als auch die Dortmunder Inszenierung von Ed. Hauswirth sind mehr als eine bloße Nacherzählung: Zum einen sind sie der Versuch, ein Psychogramm des Täters zu entwerfen, und zum anderen werfen sie zwischen den Zeilen einen Blick auf die Oberflächlichkeit der Gesellschaft des gehobenen Mittelstands in Europa. Jean-Claude Romand war ein respektiertes Mitglied dieser Gesellschaft. Als auf internationalen Konferenzen gefragter Arzt und Experte der Weltgesundheitsorganisation war er beruflich erfolgreich, finanziell abgesichert und bei seiner Familie und seinen Nachbarn anerkannt. Von seiner Tätigkeit bei der WHO, seinen Begegnungen mit prominenten Gesprächspartnern und seinen Erlebnissen bei mehrtägigen Dienstreisen wusste er detailreich zu berichten. Romand, so schien es, hatte vom Leben nichts zu befürchten. Außer der Wahrheit.

Denn die heile Welt des erfolgreichen Gesundheitsexperten hatte einen Haken: Monsieur le docteur hatte bereits ab dem zweiten medizinischen Studienjahr keine Prüfungen mehr abgelegt. Achtzehn Jahre lang hatte er ein Leben geführt, von dem nichts einer Realitätsüberprüfung standgehalten hätte. Es gab keinen Job bei der WHO, es gab keine Dienstreisen, es gab kein Büro, in das er jeden Morgen fuhr. Stattdessen Waldspaziergänge, Tage und Nächte in Hotels, in denen er Reiseführer über seine angeblichen Dienstreise-Destinationen studierte, damit er zu Hause davon erzählen konnte. Seine Frau genoss den Wohlstand und hinterfragte nichts. Sein Nachbar und bester Freund aus Studienzeiten will keine Ungereimtheiten bemerkt haben. Wo das Geld für den gehobenen Lebensstil herkam? Auch Romand hatte ein Projekt 18: Als Mitglied der WHO, so gaukelte er seiner Verwandtschaft vor, könne er Geld zu ungeheuer günstigen Zinsen von 18 % anlegen. So sammelte er ein, was immer Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder anzulegen hatten. Erst als seine Geliebte ihr Geld zurückforderte, flog die Angelegenheit auf.

Ich heiße Emmanuel Carrère und schreibe die Geschichte auf“, spricht der Chor der Schauspieler in Ed. Hauswirths Inszenierung. Carrère war schnell auf die Geschichte gestoßen, hatte den Prozess gegen Romand verfolgt, besuchte ihn im Gefängnis und interviewte Nachbarn und Freunde. Er gewann Romands Vertrauen und erfuhr viel über dessen Biographie und sein Handeln – inwieweit der Hochstapler, der angeblich im Knast zum überzeugten Katholiken wurde, dabei weiter hochgestapelt hat, weiß man nicht. Die Konstellation erinnert stark an die Mutter aller Tatsachenromane, Truman Capotes „In Cold Blood“. Doch Carrère bleibt auf Abstand, bleibt unbestechlicher und emotional weniger beteiligt als der narzisstische Capote. Carrère hatte mit dem Stoff zu kämpfen und benötigte sieben Jahre, um das Buch zu vollenden. Das gelang erst, als er das Projekt nahezu aufgegeben hatte und Abstand gewann.

Auch im Schauspiel Dortmund bleibt der Abstand zur Täterfigur maximal groß. Romand tritt erst zum Ende in verfremdeter Form auf (und selbst das erscheint eigentlich überflüssig), so dass der Zuschauer nicht durch die Persönlichkeit eines Schauspielers beeinflusst wird, wenn er sich ein Bild von dem Täter machen will. Gespielt wird er dann im Bärenkostüm durch den gleichen Schauspieler, der auch den Autor gibt: Uwe Rohbecks Auftritte strukturieren den keineswegs chronologischen Ablauf der Erzählung, erscheinen aber zum Verständnis der Inszenierung nicht unbedingt notwendig. Die Erforschung der Persönlichkeits- und Motivationsstruktur des Täters erfolgt über die Figuren seiner Opfer und seiner engsten Freunde. Dabei bedient sich der Regisseur einer Methode, die in Ansätzen sogar einer Familienaufstellung ähnelt. Collageartig nähert sich die Inszenierung dem Fall und der Persönlichkeitsstruktur des Täters – und mit Distanz. Marlena Keil, Caroline Hanke und Björn Gabriel nähern sich ihren Rollen aus ihrer privaten Perspektive, in einem „Casting“. Sie stellen Vermutungen über den Charakter ihrer Rollen an, bevor sie beginnen, einzelne Situationen auch szenisch darzustellen. Dabei werden die Figuren von Romands Ehefrau Florence sowie von seinen Nachbarn Luc und Cécile Ladmiral gedoppelt: Drei Schauspielschüler(innen) aus Graz, die derzeit ihr letztes Studienjahr am Schauspiel Dortmund verbringen, verkörpern Luc, Cécile und Florence zur Studienzeit und eröffnen eine zweite, zusätzliche Perspektive auf die Charaktere. Auch räumlich halten sie häufig Abstand voneinander; ab und an erhalten die älteren Figuren Feedback von ihren jüngeren Ichs.

Großartig gibt Marlena Keil die ältere Florence als etwas naive, wenig intellektuelle Wohlstands-Tussi und beglaubigt damit, warum sie im Falle von Ungereimtheiten den Kopf in den Sand steckte. Dass Florence einen Studienabschluss in Pharmazie hat, also so ganz unintellektuell eigentlich nicht sein kann, merkt man ihr nicht mehr an: Dafür steht Alida Bohnen, ihr jüngeres Alter Ego aus Studienzeiten, die ihr zumindest einmal ihre Inkonsequenz und Naivität spiegeln wird. Caroline Hanke gibt neben der älteren Cécile auch Romands Geliebte Corinne, die das Verbrechen ungewollt ins Rollen bringt, als sie das Jean-Claude zur Vermögensanlage anvertraute Geld zurückfordert. Die junge Cécile Ladmiral wiederum wird von Berna Celebi verkörpert; Björn Gabriel, dessen Spielweise die ironische Distanz zu seinen Rollen ohnehin eingeschrieben ist, gibt den intellektuellen, aber auch oberflächlichen Freund Luc. Sein junges Alter Ego ist Maximilian Ranft, unter den drei Grazer Schauspielschülern die größte Entdeckung. Ranft fragt sein älteres Ich Gabriel einmal, ob er es sich in seiner Harmoniesucht im Hinblick auf seinen betrügerischen Studienfreund nicht allzu leicht gemacht hat, aber für Luc Ladmiral gilt wohl auch nach dem Verbrechen, was für den Landarzt in Anbetracht der vermeintlichen großen Karriere des Studienkollegen gegolten hatte: Er wird sich selbst „nie als Versager begreifen.“ Eine gute Einstellung, diesmal jedoch mit fatalen Konsequenzen…

 So blickt denn die Inszenierung nicht nur auf die Fassade, die diese Menschen jahrelang aufrechterhalten haben, sondern sie versucht mit ihnen zu verstehen, warum die Hochstapelei Romands so lange unbemerkt bleiben konnte. Automatisch ergibt sich daraus das Bild einer oberflächlichen Wohlstandsgesellschaft, in der „Freundschaften“ gepflegt werden, ohne dass man sich ernsthaft miteinander beschäftigt. Die vorübergehende Trennung zwischen Florence und Jean-Claude, die zu weiteren Lügen führte? Mit den konventionellsten Ausreden begründet, ohne echtes Feedback (aber von Alida Bohnen großartig ironisch gespielt). Die depressiven Anfälle Jean-Claudes? Er verkriecht sich tagelang „wie ein Gespenst“ bei geschlossenen Vorhängen in seinem Zimmer, aber niemand bemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Die Nicht-Teilnahme Jean-Claudes an seinen Klausuren? Bleibt unbemerkt. Sein späteres Versteckspiel auf Parkplätzen, in Hotelzimmern und auf Spaziergängen? Hat Jean-Claude geschickt eingefädelt, aber niemand hat je hinterfragt, warum es keine Büro-Telefonnummer von ihm gab, keine Kontakte zu Kollegen. Eine kleine Lüge zog immer größere Lügen nach sich, und schließlich wurde Jean-Claude Romand zum Monster. Aber er muss auch ein unglaublich einsamer Mensch gewesen sein: Wem er sich anvertraut habe, wird er im Gerichtsprozess gefragt. Nur seinem Hund, lautet die Antwort des Mörders, der bei dieser Frage eine Art epileptischen Anfall bekommt.

Könnte es nicht sein, dass diese seine Einsamkeit sich zu einem Trauma ausgewachsen hat? Romand war in einer kleinbürgerlichen, extrem wertkonservativen Familie aufgewachsen. Jean-Claude Romand wurde, so heißt es einmal, getragen von dem Gedanken, niemanden enttäuschen zu dürfen. Vielleicht war es der moralische Rigorismus seiner Erziehung, der den Widersacher in seiner Seele großgezogen hat und der ihn ganz, ganz langsam zum Monster machte.