Lebensgeschichte eines Fantasten, der zugleich ein Egoist ist
„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung, welcher Zivilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist.“ (Arthur Schopenhauer)
Peer Gynt mit allen Reizen des Märchens, einer Fülle phantastischer Wendungen und Szenen, ist die Geschichte eines Muttersöhnchens und Fantasten. Peer, der wortgewandte Ich-Sucher, setzt sich mit Fantasie und Größenwahn über die Realität seiner kleinkarierten Herkunft hinweg. Er erfindet sich seine eigene Welt, will König und gar Kaiser werden. Am Hochzeitstag entführt er die reiche Bauerntochter Ingrid, lässt sie dann aber sitzen, weil er das Mädchen Solveig schöner findet. Auf der Suche nach seinem wahren Ich rät ihm der „Krumme“, gewissermaßen ein Phantom der Selbstsucht, „außen herum zu gehen“, einen Umweg zu machen. So lässt Ibsen seinen Helden die wildesten Abenteuer in verschiedenen Ländern bestehen und bringt ihn schließlich an seinen Ausgangsort zurück, wo sich ihm der „Knopfgießer“ in den Weg stellt und ihm sein irdisches Ende verkündet. Peers Lebenszyklus wird als Zwiebel dargestellt, in der der alternde Peer nichts als ungenießbare Schalen findet, im Kern nur das Nichts. Immer wieder steht er vor der Entscheidung „Sei du selbst.“ oder „Sei dir selbst genug.“ In dem Jahr vor Peer Gynt schrieb Ibsen das Gedicht „Brand“, in dem es heißt: „Alles, was du bist, sei durch und durch, nicht halb ein Fisch und halb ein Lurch.“
Karsten Dahlem, ausgebildeter Schauspieler und Theater- sowie Filmregisseur, inszenierte Peer Gynt auf der kleinen Bühne der Casa in einer sehr verdichteten Version, sprachlich modernisiert. Nur eine Stunde und vierzig Minuten dauert der Abend und doch erleben wir alle wichtigen Facetten dieses 1867 geschriebenen Dramas mit, die das immer noch aktuelle Thema widerspiegeln: Peer, ein Antiheld, ein Meister der Verdrängung, ein Mann mit Komplexen ob seiner Armut. Jemand, der ständig auf der Flucht ist, vor sich selbst und vor der Verantwortung für andere. Sei es seine Mutter Aase, sei es seine große Liebe Solveig. Jemand, der keine Kompromisse machen will, der nie satt wird, immer weiter geht. Alexey Ekimov ist ein ungemein überzeugender, brennender Peer gelungen. So wenn er äußerst anschaulich Aase von der Jagd auf den Hirsch berichtet. Sie jammert besseren Zeiten hinterher und betäubt sich mit Alkohol. Intensiv die Mutter-Sohn-Beziehung, die sehr liebevolle Momente hat. Ines Krug überzeugt sowohl als Aase wie auch als Trollkönigin und als Knopfgießer. Sabine Osthoff glänzt als naive Ingrid und als penetrante Trollprinzessin. Silvia Weiskopf gibt Solveig, treu Peer liebend und ihm ergeben. Alle drei Frauen spielen aber auch noch diverse weitere kleinere Rollen in Peers kaleidoskopartig vor uns aufgeblättertem Leben. Mit relativ wenigen Mitteln entstehen vor unseren Augen die Bilder zu Peers Leben: vom ungestümen jungen Mann in Norwegen über den skrupellosen Menschen- und Waffenhändler in Marokko bis hin zum alten Mann, der in die Heimat zurückkehrt. Projektionen, Videoeinspielungen, zum Teil Großaufnahmen der Schauspieler und nur wenige, leicht versetzbare Latten auf einem Rondell in der Bühnenmitte bzw. um es herum lassen die verschiedenen Szenen vor uns lebendig werden. Christoph König spielt live, u.a. Gitarre und Geige, und ist auch für den zugespielten Sound zuständig – beides verdichtet die Atmosphäre. Ekimov gelingt es mühelos, die Metamorphose vom jungen, ungestümen Jüngling über den „self-made-man“ – einen typischen weißen Europäer, der sich als Weltherrscher begreift und im Namen des Fortschritts gnadenlos ausbeutet – bis hin zum alten Mann. Zahllose Kostümwechsel helfen, die Bilder zu illustrieren. Und dennoch sind es seine Wandlungsfähigkeit und sein intensives Spiel, seine permanente Frage nach sich selbst, seinem Kern, die fesseln.
Ein mitreißender Abend mit einem fantastischen, sehr vielseitig spielenden Ensemble, der zu Recht bejubelt wurde.