Uninteressante Leute zeichnen ein Gesellschaftsportrait
„Krebs kommt nicht von Wurst, Krebs kommt daher, dass wir so traurig sind.“ Dieser Satz ist der schönste Moment in der Deutschsprachigen Erstaufführung von Lavinia Branistes Roman Null Komma Irgendwas am Freien Werkstatt Theater Köln. Die Formulierung amüsiert, die Aussage fasst einen an. Sie fasst auch irgendwie das Lebensgefühl der jungen Generation in Bukarest und anderswo zusammen, von dem Braniste berichtet. Aber er ist ein einsamer Höhepunkt in einer allzu andante vorüberziehenden Inszenierung. Denn die Menschen, die da traurig sind, vermögen nur selten unser Interesse zu wecken.
Cristina arbeitet in einer Baufirma. Das passt ganz gut, denn das FWT Köln hat gerade eine viermonatige Umbau- und Renovierungsphase hinter sich. Mit der Dramatisierung des Romans der in Rumänien gerade sehr erfolgreichen jungen Autorin eröffnet das Theater den Premierenreigen der neuen Spielzeit. Cristina stellt sich als „Sekretärin“ vor. Mit abgeschlossenem Literaturstudium und abgebrochenem Promotionsvorhaben ist sie dafür sicher etwas überqualifiziert, aber immerhin übernimmt sie in Verhandlungssituationen die Übersetzung für ihre raubeinige Chefin Liliana. Richtig glücklich ist Cristina nicht in ihrem Job, aber ihre Situation zu verändern, vermag sie auch nicht. Die Baufirma hat ein Partnerunternehmen in Madrid, zu dem Cristina Liliana ab und zu begleitet. Vielleicht handelt es sich dabei auch um mehr als ein Partnerunternehmen, denn Liliana nimmt schon seit längerem keine Investitionen mehr für ihr rumänisches Stammhaus vor. Dem geht es mau; immerhin kommen die Gehaltszahlungen „meistens“ pünktlich.
In Spanien lebt auch Cristinas Mutter, die dort „in der Touristikbranche tätig“ ist – auf einem Campingplatz in Alicante nämlich. Otilia dagegen, Cristinas beste Freundin, arbeitet in Ungarn in einem Call Center. Am Wochenende gehen Cristina und Otilia tanzen und reden, über was junge Mädchen mittleren Ehrgeizes halt so reden: Facebook, Jungs und die für Außenstehende mäßig interessanten Aufregungen in ihren Liebesbeziehungen. Mit ihrem Freund Mihaj führt Cristina eine Fernbeziehung. Der junge Schnösel liegt meist zu Haus im Bett, skypt ein bisschen rum und sondert Belanglosigkeiten ab. Er lässt sich auf nichts festnageln, nagelt aber seine Cristina anlässlich gemeinsamer Zeltabenteuer bei einem Musikfestival in Cluj. Wir hätten der sympathischen jungen Dame einen besseren Vater für das bald sich ankündigende Kind gewünscht.
So weit, so Alltag. Irgendwie auch das ganz normale Allerlei in Europa. Von „offensiver Kunstlosigkeit“ spricht @literaturpalast auf Instagram in einer Besprechung des Romans und trifft des Pudels Kern. Dennoch gebe der Roman einen vielschichtigen Einblick in die heutige rumänische Gesellschaft. Ja: Roman und Inszenierung streifen typisch rumänische, aber auch allgemeingültige europäische Probleme: Korruption, die Determinierung von Aufstiegschancen durch familiäre Herkunft und Machtbewusstsein, um nur einige zu nennen. Und den Brain Drain in rückständigen Regionen: Viele rumänische Potentialträger verlassen das Land, das zu einem nicht unbeträchtlichen Teil von den Überweisungen rumänischer Arbeitsmigranten in die Heimat lebt. Daheim kann man zwar besser leben als zu Zeiten von Ceausescus lähmender Beton-Diktatur, aber der Aufschwung erfolgt langsam. Die Aufstiegsmöglichkeiten für junge Akademiker sind begrenzt, und junge Männer, die was taugen, findet frau nicht so leicht, weil sie längst ausgewandert sind. Einmal reflektiert Cristina sogar darüber, wie sie selbst sich wohl im Spitzelstaat der Securitate verhalten hätte, doch bleibt dies alles eher an der Oberfläche. Sie müsse wohl noch mehr lernen über die rumänische Geschichte, schiebt Cristina den Gedanken fort.
Vielleicht ist das ja eine kluge Strategie: Wenn man wie Cristina im Land bleiben will, macht man sich am besten nicht allzu viele Gedanken über die Alternativen, die das Leben bietet. Eher lässt sich konstatieren: So wie Cristina und Otilia reden und leben, leben und reden die Menschen auch bei uns: banale Kommunikation und ein bisschen Disko. Lavinia Branistes Roman – und somit auch Inka Neuberts Inszenierung – haben weder Climax noch dramatisches Potential. Man mag ein wenig Beklemmung verspüren angesichts der Zustandsbeschreibung der Gesellschaft, aber zumindest bei uns im Westen, wo es ähnliche Schicksale, aber mehr Möglichkeiten zum eigeninitiativen Entrinnen gibt, fragt man sich, warum das Ganze auf die Bühne gehört. Die Kölner machen nicht viel falsch: Bei einer schlechten Bearbeitung könnte der Stoff schnell in eine RTL-Soap abrutschen, aber er wird flott und sympathisch gespielt. Bloß: Was wir sehen, ist nicht nur spannungsarm, sondern belanglos. Wir schauen 80 Minuten lang uninteressanten Leuten zu – warum?
Wegen Mirjam Birkl. Wenn Cristina von ihrer ungewollten (und zu einem unpassenden Zeitpunkt von einem unpassenden Mann verursachten) Schwangerschaft erfährt, ist dies der einzige wirklich intensive Moment der Inszenierung. Er zeigt wie in einem Brennglas, warum der Besuch der Aufführung dennoch keine verlorene Zeit ist. Mirjam Birkl als Cristina verfügt über ein unerschöpfliches Reservoir an kleinen Gesten und Blicken, die den Seelenzustand eines etwas unbedarften, aber keineswegs dummen Mädchens ausdrücken können. Grandios ist ihr Mienenspiel, wenn sie zwischen Erschrecken, Angst und Liebe auf die Nachricht von der Schwangerschaft reagiert, wenn sie mit einer gewinnenden Mischung aus Distanz, Verwunderung, Selbstironie und Vergnügen zum ersten Mal einen Pornofilm guckt. Großartig gelingt es ihr, die Unbedarftheit ihrer Figur auszustellen, ohne selbst peinlich zu werden. In einem Stück, das seinen Figuren so wenig Stoff bietet, ist das eine schauspielerische Glanzleistung.
Aus Madrid und vom Besuch ihrer Mutter in Alicante kehrt Cristina emanzipierter, selbstbewusster zurück. Sie bricht ihre Facebook-Kontakte zu ihrer unglücklichen Liebe, zu ihrer unsympathischen Chefin und zu ihrem unseriösen Kindsvater ab. Sie weiß jetzt, was echte Liebe ist. Es ist „die Stille, in der man den Atem anhält, um zu hören, ob der eigene Schutzengel noch da ist.“ – Gemeint scheint die Mutter vom Campingplatz, die ihr einen Moment lang Halt gegeben hat. Na ja…