Mit dem Moped durch das All
Ach, vergänglich ist der Ruhm. Als das Stück von Wolfram Lotz im Jahre 2011 uraufgeführt wurde, gehörte – ganz werkgetreu – zu den Promis, die Einige Nachrichten an das All verschicken durften, auch der damalige CDU- und Kanzleramts-Lautsprecher Ronald Pofalla. Der ist zwei Jahre später unter mächtigem Getöse in den Vorstand der Deutschen Bahn AG eingezogen, und mittlerweile ist es ruhig geworden um ihn. So ruhig, dass Franziska Henschel ihn in ihrer Neu-Inszenierung des Lotz-Stücks am Theater Oberhausen kurzerhand gestrichen hat. Pofalla kommt nicht mehr vor, obwohl Lotz in der ersten von bescheidenen 64 Fußnoten zum Stück konstatiert, dass alles vorkomme. Henschel aber ist exkulpiert, denn „husch! – ist es wieder vorbei“, geht die Fußnote weiter.
Sis ist vorbei, die Promi-Zeit von Ronald Pofalla. Ganz anders verhält es sich mit dem US-amerikanischen Botaniker und Ichthologen Constantine Samuel Rafinesque. Den kennt doch jeder, oder? Zu Beginn des 19.Jahrhunderts widmete sich der ausgeprägte Exzentriker unter anderem der Botanik und der Anthropologie. Man muss man nicht kennen, er kommt aber vor: Das Gürkchen fällt ihm vom Brot ins Wiesenschaumkraut, und schon ist sein Forschergeist geweckt. - Kleist kennen die Theaterzuschauer wirklich alle: Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist – „also Bernd“, verleiht ihm eine der Schauspielerinnen kurzerhand einen neuen Rufnamen - ist nicht nur einer der Glücklichen, die Nachrichten an das All verschicken dürfen, sondern er bastelt sich auch ein Moped zusammen. Kleist lebte zwar im 18. Jahrhundert, aber in Brandenburg war trotzdem DDR, wie die Inszenierung beiläufig klarstellt. Dann passt’s ja – ob Simson oder MZ: Mopeds bauen konnten die in der DDR jedenfalls besser als Sozialismus.
In den Tod geht Kleist nicht mit Henriette, sondern mit Hilda. Die ist zwar gleich in der ersten Szene von Henschels Inszenierung virtuell mit einem Subaru kollidiert (nämlich via Schriftband auf der Leinwand, auf der immer wieder von Stimmen aus dem Off vorgelesene Textteile aus Lotz‘ Drama eingeblendet werden), aber Hilda erlebt später ihre Wiedergeburt, um mit Bernd Kleist zu sterben. Das Leben ein Traum? Das Leben ein Alptraum?
Nee: Das Leben vorbei: „Wir sind alle Weltraumschrott“, heißt es mehrfach. Lotz geht es in seinem kaum entwirrbaren Text um existenzielle Fragen, um den Tod und das, was danach ist. „Wir befinden uns in einer Explosion“, lautet die Zueignung. Der spottende Autor lässt Kleist an der Explosionszeichnung seines Mopeds arbeiten, die großartige Anna Polke performt in Franziska Henschels Inszenierung einen wunderbar unbeholfenen „Explosionstanz“ – aber vor allem sind Menschen und Sachverhalte, die sich in einer Explosion befinden, nicht mehr mit logischen Maßstäben zu messen. In einer Explosion gibt es Wirrwarr und wenig Zusammenhänge. Das Subaru-Opfer aus dem 21. Jahrhundert und der Suizidale vom Wannsee aus dem 19. können sich auf einer Ebene begegnen und ebenso in der großen Weltraumschrottpresse landen wie Kain und Abel, der Turmbau zu Babel, der Strauch auf der Heide oder das Gras auf der Weide. Oder wie Lum und Purl: Die beiden Schwulen wünschen sich ein Kind, doch auch Purl wird bald sterben. Ohnehin wären die beiden in Henschels Inszenierung arg spät Gebärende: Lum, geführt von Ana Berkenhoff, und Purl, geführt von Anna Polke, werden von zwei Puppen gespielt, die frappierende Ähnlichkeit mit den nörgelnden Opas Statler und Waldorf aus der Muppet Show haben. Sind auch die Weltraumschrott? Ja, sicher: In der Explosion gibt es allenfalls noch ein letztes Aufbäumen gegen den Tod. Gegen Ende der Inszenierung stimmt Ana Berkenhoff einen melodischen Klagegesang an, der bald übertönt wird vom wütenden Schlagzeug Dominik Mahnigs und einem verzweifelten Schreien der Purl-Schweitzke-Puppe. Doch, Fußnote 35, „für das Weinen gibt es keine wissenschaftliche Erklärung.“
Die Publizistin und Theaterkritikerin Barbara Burckhardt hatEinige Nachrichten an das All einmal als „eine größenwahnsinnige Zumutung zwischen Dada und existenzieller Sinnsuche“ bezeichnet. Eine Zumutung ist der Text auch für das Theater. Doch Franziska Henschel hat sich dieser Zumutung mit großem Einfallsreichtum gestellt. Großartig bringt sie den dadaistischen Humor des maximal versponnenen Stücks an die Oberfläche, ohne die melancholischen und in Einzelfällen sogar verzweifelten Momente zu unterschlagen. Selbst die Fußnoten bekommt sie unter: Debo Kötting steht meist am rechten Rand der Bühne, bewegt sich manchmal aber auch durch die Szenerie und stellt lakonisch einige dieser Fußnoten in den Raum. Wie bei Lotz handelt es sich dabei häufig um zauberhaft sinnfreie Kommentare und surrealistische Scherze. Dominik Mahnig begleitet die Aufführung mit atmosphärischen Klängen, greift gelegentlich aber auch einmal verbal ein: Es gehe um den Text, das Theater, das Sinnlose und das Zusammenhanglose, sagen Anna Polke und Mervan Ürkmez, der als bedauernswerter „Leiter des Fortgangs“ die unlösbare Aufgabe hat, das „Wirrwarr“ zu strukturieren und für einen Handlungsfortschritt zu sorgen. „Eigentlich um die Musik“, entgegnet Dominik Mahnig trocken – und Recht hat er: Als aus dem Off die Geschichte von Hildas Subaru-Unfall erzählt wird, lauschen die vier Schauspieler mit geschlossenen Augen. Die skurrile, aber traurige Geschichte bekommt durch die Musik etwas Hypnotisches. An anderer Stelle entwickelt die Inszenierung alptraumhafte Magie.
Florian Loycke vom legendären Berliner Puppentheater „Das Helmi“ hat zahlreiche wunderschöne, ebenfalls skurrile Puppen gebaut, die eine Vielzahl der etwa 30 Rollen aus dem Lotz-Stück übernehmen. Sinnfällig, aber auch ästhetisch überzeugend ist der riesige, überdimensionale Trichter, der die Bühne von Johanna Fritz dominiert und der in allen Farben des Regenbogens ausgeleuchtet wird. Die Schauspieler agieren mal vor oder neben ihm, mal in der Trichtermuschel, mal am hinteren engen Ende der lautsprecherartigen Konstruktion, aus der sie ihre Nachrichten an das All versenden. „Ich glaube, dass ein gelungenes Sein von einer einzigen Sache abhängt: UNTERHALTUNG“, heißt es einmal in der Inszenierung. Wenn das so ist, hatten wir ein gelungenes Sein an diesem Abend. Und es wird sich in der Explosion fortsetzen. „Der Raum dehnt sich aus. Dort, wo zuvor die Bühne war, ist nun ein unendliches schwarzes Meer“, zitiert die Aufführung eine Regieanweisung des Autors. Die Atmosphäre der Inszenierung lässt uns entschweben in ein wunderbares dunkles, unerforschtes All.