Übrigens …

Iwanow im Bochum, Schauspielhaus

Großes Schauspiel über die Langeweile

Iwanows Haus wird nur durch die Kanten eines großen geometrischen Quaders definiert. Der Zuschauer kann jederzeit hinein- und hindurchsehen - bis zur Brandmauer, vor der wie ein Setzkasten ein überdimensioniertes schwarzes Regal steht, in dem sich ein paar spärliche Requisiten verlieren. Auch die Schauspieler, die gerade keinen Einsatz haben, hocken oder liegen in diesem Regal, wenn sie sich nicht, auf ärmlichen Plastik- oder Holzstühlen sitzend, über den hinteren Teil der Bühne verteilen. Auch sie können zuschauen - ins Haus hinein und durchs Haus hindurch, dorthin, wo zu Beginn stumm und ohne Körperspannung Jens Harzer als Iwanow ein Buch liest. Kaum wahrnehmbar weht von fern Musik herüber. Der Ton ist gesetzt: Er ist leise, so leise, dass schon die Zuschauer in der Mitte des Parketts berichten, sie könnten das gesprochene Wort der Schauspieler nicht verstehen und läsen deshalb die englischsprachigen Obertitel mit. Aber sie beschweren sich nicht: Sie verstehen den Ton der Aufführung: die Langeweile, den Überdruss und die Antriebslosigkeit der russischen Gesellschaft sowie die Depression des verarmten Gutsbesitzers Iwanow. Und sie saugen die Atmosphäre ein, die das exquisite Bochumer Ensemble kreiert. Da muss man nicht jedes Wort verstehen. Da muss man nur genießen.

Langsam nähert sich Thomas Dannemann als Gutsverwalter Borkin dem gedankenverloren wirkenden Iwanow und legt das Gewehr auf ihn an. Im Scherz - aber immerhin hat Borkin getrunken. Da kommt vorübergehend Spannung auf: Wird sich vielleicht doch ein Schuss lösen? Ach was: Getrunken wird viel in der gehobenen russischen Landbevölkerung, was an Johan Simons‘ mehr als vierstündigem Tschechow-Abend Gelegenheit zu vielen virtuosen, aber ebenfalls leisen komödiantischen Szenen geben wird. Spannend ist es selten bei den Iwanows und Lebedews. Empathisch empfinden wir mit: die Langeweile, die Antriebslosigkeit und die Depression, deren Protagonist eben dieser Jens Harzer als Iwanow ist. Nervös sei er, behauptet Iwanow, doch in erster Linie wirkt er phlegmatisch, schlaff und erschöpft. Irgendwie implodiert: Nur selten brechen seine Verzweiflung, sein Schuldgefühl und sein Selbstekel etwas lebhafter aus ihm heraus. Er, der einstmals so tatkräftig war, sozial engagiert und reformorientiert, steht vor den Trümmern seiner Existenz. Er ist pleite, seine Ehe ist im Eimer, seine Frau leidet an Tuberkulose und liegt im Sterben. Jele Brückner liegt wirklich meistens: auf einem Matratzenlager im Kanten-Quader oder ganz hinten im Regal. Dennoch verleiht sie ihrer Figur Kraft und Ausstrahlung. Immer wieder bäumt sie sich auf gegen die körperliche Schwäche - eben das, was dem vor allem psychisch schwachen Iwanow nicht gelingt. Für Iwanow hat seine Frau ihren Zweck nicht erfüllt: Bei der Hochzeit hat sie den jüdischen Glauben ihrer Familie aufgegeben, was ihre Enterbung zur Folge hatte. Das von Iwanow so dringend benötigte Geld floss also nicht. Schnell erkaltete auch die Liebe.

So schlaff und antriebslos Iwanow auch sein mag: Jens Harzer macht gleichzeitig die Intelligenz seiner Figur deutlich. Iwanows wegwerfenden oder seine pessimistische Weltsicht umschreibenden satirischen Bemerkungen haben Witz, Ironie und tiefere Bedeutung. Trotz seiner Verzweiflung und seines Phlegmas ist er schlagfertig. Perfekt gelingt es Johan Simons, die in Deutschland bis vor zwanzig Jahren in der Tschechow-Rezeption vorherrschende Melancholie mit dem vom Dramatiker behaupteten Komödien-Gehalt seiner Stücke zu verbinden. Dazu trägt wesentlich die in Bochum genutzte Neuübersetzung von Angela Schanelec bei. Martin Horn gibt den Grafen Schabelskij als einen köstlichen Spötter vor dem Herrn. Er feuert seine Pointen manchmal fast zusammenhanglos ab wie es alte Menschen manchmal tun, aber auch er ist alles andere als dumm. Nicht weniger Witz hat Bernd Rademacher als Lebedew, der eine ganz eigene Art von Sarkasmus an den Tag legt und der Damenwelt wunderschön formulierte Komplimente macht, die ihm heute jedoch den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit einbrächten. Zum Beispiel von dem „kandierten Äpfelchen“ Marfa Jegorowna Babakina, der schönen Witwe, deren Reiz die auch andere Männer in die Gefahr einer #MeToo-Klage bringt - mit der schnippischen Marina Frenk sowie dem androgyn wirkenden Marius Huth als jungem Arzt Lwow und Konstantin Bühler als dem auf fast autistische Weise ausschließlich auf sein Kartenspiel konzentrierten Kosych schafft Simons weitere äußerst präzise gezeichnete Individuen.

Das perfekte Gegenteil von Iwanows phlegmatischem Charakter aber zeigt Gina Hallers wunderbare Sascha, die Tochter des Vorsitzenden der landwirtschaftlichen Verwaltung Lebedew, die sich in Iwanow verliebt und glaubt, ihn aus seiner Schwermut erlösen zu können. Sie bringt Leben in die erstarrte Gesellschaft; fast jede ihrer Bewegungen hat etwas Tänzerisches. Das ist nicht nur Lebenslust: Das ist auch das äußere Zeichen ihres Wunsches, auszubrechen aus der müden, erschöpften Großbürger-Gesellschaft. Selbst den phlegmatischen Iwanow bringt sie noch einmal zum Tanzen, als sie ihn mit ihrer Freude und Zielstrebigkeit verführt.    

Immer wieder fällt der Satz, mit dem Tschechow schon in seinem Frühwerk Platonow seine Dramatiker-Karriere begann: „Wie langweilig alles ist!“- Simons hat den Mut zur Langeweile, zum Nichtstun, zur unendlichen Ruhe, und er schafft mit Jens Harzers Iwanow nach Sandra Hüllers Hamlet einen zweiten, aber ganz anderen Prototypen eines zutiefst depressiven Menschen. Vor der Pause gelingen perfekte, wie beiläufig unterlaufende Stimmungswechsel. Nach der Pause übertreibt Simons jedoch die Lethargie. Wir erleben noch einmal eine wunderbare, leise Besoffenen-Szene mit Borkin, Schabelskij und Lebedew, die, wenn man denn einen Preis für den amüsantesten Trinker vergeben würde, Thomas Dannemann mit knappem Vorsprung gewönne. Dann wird es zäh. Unendlich lang gerät der Gedankenaustauch Iwanows mit Lebedew. Eigentlich fasst er alle Themen des Tschechowschen Dramas punktgenau zusammen: die Müdigkeit, den Verlust des Glaubens, die Zukunftsangst, den (zumindest nach Iwanow) Untergang des Guten in der Welt. Schauspielerisch ist das weiterhin auf höchstem Niveau, aber der Inszenierung geht das perfekte Timing verloren. Sascha kommt zu Besuch und akzeptiert keinen Widerspruch gegen die Unbedingtheit ihrer Liebe: Da spielen zwei Virtuosen der Schauspielkunst, doch sie kommen nicht zu Potte, und die Spannung des Auftritts geht irgendwann verloren.

Immerhin hat die Szene Brisanz, denn sie ereignet sich noch zu Lebzeiten von Anna Petrowna und in deren Haus - doch aus dieser Brisanz werden zunächst keine Funken geschlagen. Bis dann Iwanows Gattin den beiden auf die Schliche kommt: Jele Brückners Anna reagiert nicht hysterisch, sondern liebend, aber sie begreift nun, dass der ganze Ehezauber wohl vor allem eine finanzielle Fehlkalkulation ihres Mannes war. Sie weint - und mitten in ihrem Jammer wird sie von Iwanow mit der ihr bislang unbekannten TBC-Diagnose „getröstet“: „Es ist gut. Du wirst ganz bald sterben.“ Er streichelt sie dabei - und die ganze Brutalität, aber auch die ganze Ambivalenz seiner weichen, aber auch hypochondrischen und ich-bezogenen Figur bringt Jens Harzer wieder einmal in einer kleinen, nur wenige Sekunden dauernden Szene auf den Punkt - das ist wieder grandios.

Der vierte Akt könnte umwerfend komisch sein, auch wenn er mit dem Selbstmord Iwanows endet. Wie er sich noch am Hochzeitstag wehrt gegen die Eheschließung, wie er glaubt, nicht verantworten zu können, seine Depression und sein Leid über die junge Frau zu bringen, wie andererseits sich Sascha in der Rolle des weißen Ritters gefällt, der Iwanow aus der Schwermut befreit - das ist nicht ohne Witz und nicht ohne Tragik. Doch erneut will die Szene nicht enden. Simons hat ein grandioses Ensemble zur Verfügung, das bis zum Schluss mit herausragendem schauspielerischem Vermögen glänzt, doch es wirkt, als habe er - vielleicht gebeutelt von der vierwöchigen Schließung der großen Bühne aufgrund eines Wasserschadens - nicht mehr die Zeit gefunden, auch die letzten 90 Minuten der vierstündigen Inszenierung zu perfektionieren. Dass Teile des Publikums den Intendanten und Regisseur, der in nur fünfzehn Monaten das Schauspielhaus Bochum wieder in die Weltklasse zurückführte, dafür ausbuhten, lässt den Theaterliebhaber allerdings sprachlos zurück. Immerhin erhielten die Schauspieler die verdienten Standing Ovations.