Übrigens …

Leben des Galilei im Schauspielhaus Düsseldorf

Brecht pur

Der eiserne Vorhang hebt sich, auf der kahlen mattschwarzen Bühne liegt zusammengekauert ein Mann im Theaternebel, über ihm ein gigantisches Rohr, das schräg vom Bühnenhimmel ragt und ein schwaches Spotlight auf die reglose Figur wirft.

Vom rechten Bühnenrand führt uns zu Live-Cellotönen (Matthias Herrmann) ein Mini-Chor ins Geschehen ein. Zunächst nur zwei Sängerinnen, später werden es mehr, jeweils die Schauspieler*innen, die - trotz ständigen Rollenwechsels - gerade frei sind: Sie übernehmen mit kommentierenden, belehrenden Songs die Texte, die Brecht - Spruchbändern gleich - den Szenen voranstellt.

In dem Jahr sechzehnhundertneun/Schien das Licht des Wissens hell …“, hören wir und verstehen: der Protagonist liegt zwar am Boden, aber dennoch trifft ihn „der Wissenschaft Licht“, sei‘s auch umwölkt von „diesem tausendjährigen Perlmuttdunst von Aberglauben und alten Wörtern“. Die Düsseldorfer Inszenierung setzt dieses Bild, bei Brecht das Vorletzte, an den Anfang und wiederholt es ähnlich als Schlussbild. Regisseur Lars-Ole Walburg erzählt die Geschichte gleichsam vom Ende her.

Plötzlich erhebt sich der scheinbar Verlorene temperamentvoll und beginnt mit dem aufgeweckten Andrea, dem elfjährigen Sohn der Haushälterin im himmelblauen Pollunder und kurzen Hosen (herrlich burschikos: Lea Ruckpaul), eine gelehrsame Unterweisung. Walburg verzichtet dabei auf alle Requisiten, auf alle „Interieurs, die Atmosphäre und Einfühlung“ vermitteln könnten, d, h. auch auf alle Handlungselemente wie Morgentoilette, auf Milch und Wecken zum Frühstück des Gelehrten, wie Brecht es in den Regieanweisungen durchaus lebensnah vorgibt. Vielmehr geht es gleich um Theorien, um Himmel und Erde, ums Ptolemäische oder Kopernikanische System. Das Premieren-Publikum reagiert leicht amüsiert und wer immer das Stück kennt, und das scheinen nicht wenige zu sein, vermerkt: hier ist Walburg Brechtscher als Brecht. Denn der Meister beklagte schon kurz nach der Vollendung des Dramas in seinem Arbeitsjournal, dass ihm diesmal - im Sinne des epischen Theaters – zu viel Atmosphäre und Einfühlung ins Stück geraten sei und dass er es deshalb im Grunde „neu schreiben“ müsse. Das nun nimmt ihm Walburg in seiner Inszenierung weitgehend ab. Nicht indem er den Text umschreibt, sondern durch Reduzierung auf die notwendigsten Worte, durch Weglassen jeglicher emotionaler Bebilderung und Handlung, das heißt, all dessen, was Brecht vermutlich „merkwürdig theatralisch“ und „aristotelisch dramatisch“ genannt hätte. Was das grandiose Ensemble daraus macht, ist großartiges Worttheater um einen mitreißend präsenten Burkhart Klaußner in der Hauptrolle.

Hin und wieder gibt es ein paar Farbtupfer: allen voran die Hohe Geistlichkeit im vollen Ornat oder die Schaupieler*innentruppe als Rotte von protestierenden Leugnern aus Gelehrten, Großherzögen und Famuli - mit üppigen Tellerkragen, weiß gefältelt, wie aus einem Renaissancegemälde entliehen - die sich ganz unvermittelt, noch bevor einer von ihnen durchs Fernrohr geschaut hätte, mit gespenstigen Masken zu einem makabrem Totentanz formiert. Die Pest greift um sich.

Dass Galilei von Venedig nach Florenz wechselt und sich dort seine Lehre im folgenden Jahrzehnt beim einfachen Volk verbreitet, besingt ein Balladensänger in exaltiertem Solo und prophezeit zugleich in grotesken Dystonien die mögliche Umkehr aller Verhältnisse (virtuos: Thomas Wittmann).

Daraufhin erscheint, völlig aus der Zeit gefallen, der Kardinal-Inquisitor als Lady mit weißblonder Ponyfrisur im eleganten Smoking (Tabea Bettin). Sie gibt sich zunächst listig gesprächsbereit, doch durch alle Argumente geistert der „Verbrannte“, gemeint ist Giordano Bruno, der nichts anderes behauptete als das, was Galilei beweisen kann. Wir hören von den Qualen des Galilei, von Gefängnis und Verhören. Die Folterwerkzeuge werden erwähnt, nicht gezeigt, und auch die Glocke von Sankt Markus in Rom, deren Geläut den Widerruf verkündet, wird in Düsseldorf nicht geläutet. Nur das Cello kratzt bedrohlich. Dann erfahren wir: Galilei entschied sich gegen die Wahrheit, für das Leben. Ein Leben im Verrat, aber mit Gänsebraten.

Meist sprechen die Darsteller*innen ins Publikum, oft von der Rampe. Auch die Dialoge werden vorwiegend im Erzählmodus ohne Hinwendung zum Gesprächspartner gesprochen. In exzellenter Sprache, aber ohne große Emotionen. Das schafft kritische Distanz zum Geschehen, auch zur eigenen Rolle. Walburg unterstreicht in seiner Inszenierung diesen von Brecht gewollten V-Effekt, sprich: Verfremdungseffekt. Er bringt ein Thesenstück im Sinne Brechts, den Zuschauern macht er es allerdings nicht leicht.

Am Ende liegt Galilei - wie zu Beginn - wieder am Boden: er hat sein Werk vollendet, das Spotlight ist erloschen, das raumbeherrschende Rohr steht ausgedient am Boden. Die letzte Szene, der amüsante Grenzübertritt des treuen Schülers Andrea mit den verbotenen „Discorsi“ in der Hand, ist gestrichen. Walburg genügt der Hinweis, dass Galilei einen Ausweg fand: Er verweist auf die Alternative zum aufoktroyierten Schweigegebot. Die Wissenschaft, die Wahrheit haben sich gegen verlogenes Herrschaftsdenken und Volks-Verdummung durchgesetzt. Das genügt. Ganz im Sinne Brechtscher Theorie. (V-Effekt).

Brecht schrieb das Stück 1939 im dänischen Exil als Fanal für die Freiheit des Geistes und Verantwortung des Einzelnen, gegen Machtmissbrauch und Menschenverachtung im Nationalsozialismus und Stalinismus.

Lars-Ole Walburg inszeniert konservativ, er verzichtet auf aktualisierende Verweise. Er überlässt es dem Zuschauer, Analogien zum heutigen postfaktischem Populismus, zu Wissenschaftsgegnern und Klimakrisenleugnern zu entdecken oder auch nicht. (Im Programmheft wird darauf verwiesen.)

Das Düsseldorfer Schauspielhaus feiert mit diesem theoretischen Thesenstück, das von der sprachlichen Brillanz und Bühnenpräsenz des Hauptdarstellers Burkhart Klaußner, aber auch aller Mitspieler*innen, getragen wird, das Jubiläum seines Schauspielhauses, das vor fünfzig Jahren - unter lautem Protest junger Menschen vor der Tür - eröffnet wurde: „Bürger in das Schauspielhaus - schmeißt die fetten Bonzen raus“, wurde damals skandiert. Bonzentheater bot dieser Abend nicht, denn die kommen bei Brecht allesamt schlecht weg.