Übrigens …

Aus dem bürgerlichen Heldenleben im Köln, Schauspiel

Dem Chaos eine Chance

Nach der Kölner Inszenierung seiner Dramatisierung von Dostojewskijs „Grünem Jungen“ im November 2018 ist Frank Castorf mal wieder am Rhein. Er berichtet Aus einem bürgerlichen Heldenleben des satirisch-bissigen Autors Carl Sternheim (1878-1942). Nun inszeniert der mittlerweile als freier Regisseur wirkende Castorf bekanntermaßen meist nicht so ganz werkgetreu. So verwebt er diesmal Sternheims Damen-Hose, die der Familie Maske und vor allem Papa Theobald, einen ungeahnten gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht, mit dem Snob. Der ist Theobalds Sohn Christian und ein Meister skrupelloser Karriere, der den Papa spielend übertrifft. Wäre da nicht Christians Tochter Christine, der selbst der väterliche Karrierist nicht das Wasser reichen kann. Im Fossil profitiert das Maske-Imperium schließlich vom heraufziehenden Vorkriegs-Dualismus aus Restauration und Kommunismus. 

Neben diesen vier Theater-Stücken lässt Castorf auch noch Sternheims Roman Europa von 1919/20 zu Wort kommen und Bild werden. Dass das alles seine Zeit braucht, lässt sich auch an der Dauer des Kölner Theaterabends ablesen: Er begann um 18 Uhr und endete kurz vor Mitternacht - also knapp sechs Stunden später.

Es ist kein Abend der leisen Töne. Es wird geschrien und gekeift, gebrüllt und gefistelt. Es ist halt ein Castorf. Dazu kann Sternheim nur den Stoff und die Sprache liefern. Aber da man es eh irgendwann aufgibt, alles zu verstehen, vor allem den inneren Zusammenhang, gerät die Art und Weise der Darstellung, die der schauspielerischen Präsenz mehr und mehr ins Visier. 

Da ist selbst die Verdoppelung radikaler Schrei- und sprachlicher Kotz-Orgien, wozu vor allem der Roman „Europa“ herhalten muss, nur ein Faszinosum unter anderen: Dass sich die Darsteller etwa auf einer nur schwer einsehbaren Halb-Etage des opulenten Bühnenbildes in Betten wälzen, sich nackt oder in Kostümen einer Cabaret-Welt in gesundheitsgefährdende Körperverrenkungen verdrehen, ist zwar zu erahnen, wird aber unmissverständlich direkt, radikal und in sich überschlagenden Sprachkanonaden durch Castorfs berühmt-berüchtigte Video-Einspielungen überdeutlich.

Es kommt aber nicht darauf an, worum es eigentlich geht. Wir sind in einer Welt des Überdrucks gelandet. Davon kann man angeekelt oder fasziniert sein: Es reißt mit. In ein Theater sprachlicher und vor allem szenisch-bildnerischer Ausnahmesituationen. Dass in diesem Chaos der Aufschrei „Ruhe! Niemand hat etwas verstanden. Castorf beleidigt“ ertönt, zeugt dann aber auch von einer, wenn auch nur selten spürbaren Selbstironie des Meisters. Und wenn eine der Akteurinnen, wie aus dem Nichts, „Es wird wärmer. Ich spüre es“, murmelt, ist das auf ein Europa gemünzt, das einem Krieg entgegentaumelt. Doch natürlich denkt jeder ans Heute. Dabei ist es nur ein Gag unter vielen.

Ganz und gar kein Gag, sondern ein kleines Wunder an Vielfalt und ausladender, wenn auch leicht angestaubt wirkender Repräsentanz, ist Aleksandar Denic’ Bühnenbild. Dass es, abseits bekannter Opern-Opulenz auf diesem Gebiet, auch im Schauspiel derartige Detailversessenheit und Großzügigkeit zugleich gibt, erstaunt - und erfreut zugleich das ansonsten oft darbende Auge des Schauspiel-Fans.

In einer Ecke dieser weiten Szene lädt eine Bar zum Verweilen ein. Meint man jedenfalls. Denn kaum hat der Abend begonnen, verliert sich Europa Fuld aus Sternheims Roman „Europa“ in diesen äußersten Winkel des Bühnenbildes. Mit einer riesigen monologischen Wort-Lawine taucht sie ein in die Welt um die Jahrhundertwende vor dem ersten Weltkrieg. Ganz und gar nicht damenhaft, im stoffsparenden Bar-Kostüm alter Zeiten, schwärmt sie von einem lasterhaften Paris, dem ihre Träume zufliegen.

Unverhofft und unverbunden damit geht’s weiter. Höhepunkte sind zunächst selten, zähe Minuten voller Geschrei in der Familie Maske folgen. Dass da „niemand etwas verstehen“ kann, kommt der Wirklichkeit des Abends sehr nahe. Aber irgendwann werden Castorfs Sprünge durch Sternheims Roman und Stücke griffiger, erlebt man die Familie Maske, der vor allem der später im Rollstuhl durchs Restaurant rasende Christian Maske seinen Stempel aufdrückt, in allen Facetten. Hier wird das „bürgerliche Heldenleben“ zur mitreißenden Farce zurechtgerückt, in der ein verlorener Damen-Slip zum Beginn einer kapitalistischen Erfolgsgeschichte wird. 

Doch was immer noch passiert, vor dem roten Vorhang im Beisein der gesamten Maske- Mischpoke, oder im breit gefächerten Bühnenbild: Man ist hin- und hergerissen von den inszenatorischen Eskapaden Castorfs. Zu retten sind sie, oft genug kurz vor dem Absturz ins totale Handlungs- und Sprach-Chaos, immer wieder durch das Ensemble, dessen Verve und Überdruck-Aktionen ebenso oft nerven wie mitreißen.

Als dann schließlich, kurz vor Mitternacht, der Vorhang endgültig fiel, war das auch das lang ersehnte Ende eines sechsstündigen Marathons. Der Applaus wollte kaum enden.