Ein Gedenken an die Namenlosen
Es ist ein meditativer Abend. Es herrscht Stille – minutenlang. Hinten werden Details eines Renaissance-Gemäldes auf die Wand projiziert. Es handelt sich um Botticinis Bild des Heiligen Tobias, des Schutzheiligen der Reisenden, wie wir später erfahren. Der hat in diesem Fall versagt. Auf der Bühne steht im spiegelnden Wasser das Wrack eines Bootes, das an die Knochen eines Fisch-Skeletts erinnert. Noch bevor das erste Wort fällt, wird deutlich: Es ist ein Requiem für die Toten der Flüchtlingskrise, dem wir heute beiwohnen.
Um das Wrack herum gruppieren sich blau gekleidete Schauspieler in gelben Gummischürzen. Als Gerichtsmediziner und Begutachter der „Unfallstelle“ untersuchen sie den Ort des Unglücks und dessen Opfer. Mit langsamen Bewegungen bücken sie sich und fischen Gegenstände aus dem Wasser: Kleidungsstücke, ein Portemonnaie, ein Mobiltelefon. Gleichzeitig wirken die blau gekleideten Gestalten wie eine Trauergemeinde. Erste Texte werden gesprochen, zum Teil chorisch: Es sind Texte afrikanischer Autoren, die sich mit dem Schicksal Flüchtender beschäftigen, Nachrufe, aber auch selbst entwickelte Textpassagen. Lautmalerisches Murmeln geht über in die Laute von Ertrinkenden, die sich irgendwann ins Unerträgliche steigern. Dann vernehmen wir Klagelaute wie in einer Totenmesse. Es ist eine Messe für die Menschen, die „ihr Leben verloren, als sie versuchten, das Leben zu finden.“
Der Mülheimer Theaterleiter Roberto Ciulli, der auch Regisseur dieses Abends ist, wurde zu diesem Abend inspiriert durch ein Buch der italienischen Forensikerin Cristina Cattaneo. In „Naufraghi senza volto“ („Schiffbrüchige ohne Gesicht“) fordert sie die Identifizierung der meist namenlos bleibenden Flüchtlingsleichen. In ihrer Arbeit als Pathologin der Universität Mailand versucht sie, durch DNA-Analysen und Knochenabgleiche den Toten einen Namen zu geben. Die ursprüngliche Zustimmung zu ihrem Tun kippte, als der mittlerweile abgelöste Innenminister Salvini eine immer fremdenfeindlichere Politik betrieb. Cattaneo erhielt Morddrohungen. Flüchtlinge wurden tatsächlich ermordet, weil Salvinis Regierung Gekenterten und Flüchtlingsbooten Hilfe verweigerte. Ciulli leistet in seiner Inszenierung Trauerarbeit mit Hilfe von Poesie. Es sind vor allem Texte des marokkanischen Autors Youssouf Amine Elalamy, auf die er zurückgreift, aber auch Lyrik der Ghanaerin Abena Busia, des Südafrikaners Zakes Mda und anderer Autoren finden Verwendung. Wir erfahren von den unterschiedlichen Motiven für die Flucht – ja, auch wirtschaftliche Motive sind darunter, wie auch nicht. Die Menschen fliehen vor Hunger und Durst, vor Dürre und Naturkatastrophen: In Teilen ist das Flüchtlingsproblem auch eine Auswirkung des Klimawandels. Wir hören die Lockrufe der Schlepper: „Was ist schon dabei – dafür gibt es Schiffe“ – und wir sehen vor uns, wie diese „Schiffe“ aussehen, die kaum geeignet scheinen, Leben zu retten. „Das Meer wartete auf uns“, heißt es – und wir sehen das Bild des kleinen toten Souhir, wir sehen, wie ein Schauspielerin eine Art Pietà bildet.
Auch Abschiedsbriefe werden verlesen, die die blau-gelb gekleideten Helfer eingenäht in den Kleidungsstücken finden. Vielleicht sind sie ein wenig ästhetisiert – es sind erschütternde poetische Texte. Wir wissen nicht genau, welche Texte selbst erstellt und welche von den afrikanischen Poeten stammen, aber gerade die Ästhetisierung von Sprache und Bildern geben den Opfern und dem ihnen gewidmeten Requiem Würde. Die Bildende Kunst wird zitiert, Bühne und Kostüme sind von erlesener farblicher Harmonie. Als das Schiff untergeht, blicken die Flüchtenden in eine farbenfrohe Unterwasserwelt - „findet Nemo“, ätzt Simone Thoma, „ich werde jetzt zu einem Kugelfisch.“ Da bricht sich Trauer in Bitterkeit und Zynismus Bahn. Auch die empathielose Haltung der nicht betroffenen, sich in Sicherheit wiegenden Europäer wird gespiegelt.
Die Ankunft der Überlebenden ist nicht minder entmutigend. Aus dem Off sind Schläge und Peitschenhiebe der Militärs zu hören. Ein Chor formiert sich: „Was habt ihr euch eigentlich gedacht, als ihr losgezogen seid? Ihr habt es doch gewusst.“ Hand aufs Herz: haben wir nicht solche Gedanken selbst schon gehabt? Aber Überheblichkeit und Bigotterie nehmen noch zu: „Wir haben schon zu Gott gebetet, da habt ihr noch euer Tamtam getrommelt…“
Am Seziertisch wird ein blaues Hemd untersucht, das einem minderjährigen Jungen aus Mali gehörte. Cristina Cattaneo hat die Szene in ihrem Buch beschrieben. Wasserdicht in Plastik verpackt, findet sich das Schulzeugnis des Jungen. Es wird vollständig verlesen und beweist, über welche hervorragenden Anlagen dieser junge Flüchtling verfügte. Es sollte seine Lebensversicherung in Europa werden, die Grundlage für einen Start in ein neues Leben. Es nützt ihm nichts mehr, denn er ist tot. - Der 85jährige Roberto Ciulli setzt sich nun an ein Sprechpult. Mit weicher, harmonischer Stimme liest der seit Jahrzehnten in Deutschlands Theaterwelt erfolgreiche Migrant aus Italien in seinem akzentgefärbten Deutsch Passagen aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ vor, minimal aktualisiert. Er liest rassistische Theorien, spricht über den germanischen Herrenmenschen. Das Licht im Parkett geht an; Ciulli spricht zu uns, dem europäischen Durchschnittsbürger. Es ist ein Text, der schwer auszuhalten ist. Auch Ciulli scheint ratlos. Nachdenklich schaut er uns an. Und setzt einen letzten Kontrapunkt: Vom Band erklingt der zweite Satz aus Henryk Góreckis dritter Symphonie. Es ist die Vertonung des Gebets eines elfjährigen Mädchens aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Voller Harmonie, doch ein erschütternder Klagegesang.
Die neunzig Minuten lange stille Trauerfeier, die Ciulli angerichtet hat, verlangt Konzentration. Viele Zuschauer halten das schwer aus: Lange hat der Rezensent in einer so kurzen Aufführung nicht mehr so viel Bonbonpapier knistern hören. Vor mir saß eine offensichtlich aus besten Verhältnissen stammende ältere Dame, die mehrfach vernehmlich von Langeweile gequält seufzte und bereits zu Beginn halblaut feststellte: „Alle tot – dann können wir ruhig schlafen.“ Die Dame würde wahrscheinlich empört den Vorwurf von sich weisen, eine Nähe zur AfD aufzuweisen. Aber Fremdenfeindlichkeit äußert sich oft subtiler als in den Tiraden eines Björn Höcke. Wer von dieser Inszenierung nicht angerührt ist oder zumindest in Betroffenheit verfällt, den sollte man aus dem Tempel werfen.