Techno-Beats als Sinnstifter
Und am Ende sind es die Techno-Beats, die einhämmernd Halt geben. Und die den vorläufigen Endpunkt einer Suche nach so etwas wie Konstanten in einer auseinanderbrechenden Welt markieren. Sie sind fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, die Jugendlichen, die 1989 in der DDR leben und zur Schule gehen. Sie sind nicht nur verunsichert ob ihrer ersten Liebeserfahrungen, sondern auch angesichts einer Gesellschaft, die um sie herum zunehmend erodiert. So finden - Zeichen von Normalität - immer noch „Wehrlager“ statt, die auf den Dienst in der Nationalen Volksarmee vorbereiten sollen, während zunehmend Menschen gen Westen „verschwinden“, deren Ausreisegenehmigungen stattgegeben werden. Ausdruck jugendlichen Lebensgefühls sind die illegalen Nächte im Freibad. Hier treffen unterschiedliche Individuen aufeinander, die ihre Wünsche nach Freiheit und Unabhängigkeit gemeinsam ausleben können. Differenzen scheinen sich in dieser Umgebung aufzulösen, keine Rolle mehr zu spielen.
Die brechen aber nach der Wende umso gewaltiger hervor. Da zählen keine Gemeinsamkeiten, sondern nur noch harsche Gegensätze, die das Einsortieren in Schubladen erleichtern. Plötzlich gibt es rechte Glatzen in Bomberjacken und linke Zecken, die Häuser besetzen. Dazwischen ist nichts mehr. Und die gehen brutal aufeinander los.
Peter Richter schrieb mit 89/90 einen Roman über die komplette Veränderung der Lebensumstände Heranwachsender durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten - ein echter Wenderoman, der nicht verwässert Gefühlswelten und gesellschaftliche Umstände miteinander verzahnt. Julia Prechsl erstellt eine Bühnenfassung, die sie selbst am Theater Münster inszeniert.
Dabei gelingt es ihr, Wahrnehmungen und resultierende Handlungen Jugendlicher zu analysieren und komplex darzustellen. Alle Zuschauer*innen werden förmlich aufgesogen von dieser - gerade für Erwachsene - oft recht fremden Welt.
Dafür sorgt Prechsls in hohem Maße authentisch agierendes Ensemble. Alle Akteure bringen die Gedankenwelt Sechzehnjähriger so herüber, dass sieunverfälscht sind, in sich folgerichtig. Da erscheint selbst der Bau von Molotow-Cocktails zum Einsatz gegen die Glatzen nur als absolut einzig richtige Konsequenz. Yana Robin le Baume, Sandra Bezler, Frank-Peter Dettmann, Louis Nitsche, Lea Ostrovskiy, Christian Bo Salle, Sandra Schreiber und Paul Maximilian Schulze verkörpern überzeugend die letzten Jugendlichen des Arbeiter- und Bauernstaats. Überzeugend gerade, weil Prechsl sie nicht bestimmten Rollen zuweist. Und so switchen sie hin und her zwischen unterschiedlichen Personen unterschiedlichen Geschlechts, äußern sich individuell, reden durcheinander oder verleihen ihren Worten im Chor großen Nachdruck .
Sie können auch nacheinanderderselbe Protagonit sein. Und sind eine Generation. Das unterstreicht Friederike Meisel mit rot-blauen Kostümen, die einen Hauch von Ostalgie verströmen und bedrohlich leuchtenden goldenen Bomberjacken.
Julia Prechsl gelingt insgesamt ein stimmiger Theaterabend. Dem wäre allerdings angesichts einer Dauer von 140 pausenlos durchgespielten Minuten durchaus der eine oder andere Strich gut bekommen, ohne das Gravität und Eindrücklichkeit gelitten hätten. Und dann sind es halt Techno-Klänge, die in einem Bunker tief unter der Erde hart und lärmend alle in ihrer Anziehung vereinen.