Der Vogel singt vor dem Entschwinden
Florian Zeller, 1979 in Paris geborener Dramatiker, gehört zweifelsohne zu den talentiertesten Autoren Frankreichs. Mehrfach erhielt er für seine Stücke bedeutende Preise, so 2004 den „Prix Interallié“, den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs. In seinen Texten geht es fast immer um Familie oder Wahrheit oder um Familie und Wahrheit. Nachdem die meisten seiner Stücke in Deutschland erstmals am St. Pauli Theater in Hamburg gespielt wurden, kam nun am RLT Neuss Vor dem Entschwinden zur deutschsprachigen Erstaufführung.
„Mitten im stärksten Sturm gibt es einen Vogel, der uns Zuversicht schenkt. Es ist der unbekannte Vogel. Der, der vor dem Entschwinden singt.“ Dieses kurze Gedicht von René Char ist eine Art emotionaler Schlüssel zu Zellers Stück, in dem wir Zuschauer, aber auch die Akteure auf der Bühne nie genau wissen, was gerade Realität ist oder nur ein Traum, eine Wunschvorstellung.
André und Madeleine leben seit über 50 Jahren zusammen und sind zutiefst in Liebe miteinander verbunden. Doch mit zunehmendem Alter wird die Zukunft immer ungewisser. Was ist vor dem „Entschwinden“, das ja den einen oder den anderen zuerst betreffen wird, zu regeln? Wobei Entschwinden sich auf den körperlichen Aspekt beziehen kann, aber auch auf den emotionalen oder geistigen. „Was passiert, wenn ich vor ihm gehe? Und umgekehrt?“ „Wer kümmert sich um mich?“ „Was bedeutet es, in Würde zu sterben?“
Anne und Elise, die beiden Töchter des Paares, verbringen ein Wochenende bei den Eltern, um die „Situation“ zu regeln.
Der Abend beginnt mit einer Szene, die Vater und Tochter Anne im Gespräch zeigt. Sie will das Haus verkaufen, das er doch nicht allein bewohnen könne. Er sitzt in einem Sessel im Vordergrund auf einer Sandfläche, die ein unbekannter Mann (eine Kapuze verdeckt sein Gesicht) immer wieder glatt harkt. Das Haus dahinter besteht aus halbdurchsichtigen Plastikwänden, die ahnen lassen, was im Innern zu sehen ist. Parallel zur Szene mit Vater und Tochter sieht man dort die Mutter auf einem Tisch wie aufgebahrt liegen. Dann jedoch ein Perspektivenwechsel: Die Mutter steht auf und bereitet das Essen wie immer zu. Der Vater sagt: „Man denkt, dass die Leute tot sind. Und dann sind sie es nicht.“ Nur ein Beispiel von vielen, die den Zuschauer rätseln lassen, ob das, was er gerade sieht, die wahre Realität ist oder Ausdruck von Gefühlen wie Angst, Trauer, Sehnsucht. Aber auch immer von Liebe und einer tiefen Verbundenheit dieses alten Paares. Immer wieder werden neue Blickwinkel in Bezug auf das Verschwinden eines geliebten Partners aufgezeigt, wobei nie klar ist, ob diese oder jene Szene der Wahrheit entspricht. Dies gilt auch für Erinnerungen an Ereignisse oder Personen. Erzählstränge überschneiden sich immer wieder.
Aber wenn man sich mit dem Thema des Abends schon einmal befasst hat, kann man nur zutiefst berührt sein. Denn viele Gefühle und Situationen erkennt man wieder. Ebenso manche Ängste oder Wunschvorstellungen.
Christiane Lemm als Madeleine und Heiner Stadelmann als André tragen in erster Linie den Abend, der besonders gut in das intime Studio passt, durch ihr exzellentes Spiel. Juliane Pempelfort (Anne) und Anna Lisa Grebe (Elise) überzeugen als Töchter. Namenlose Figuren, die ab und an eine kleine Rolle spielen, geben Hergard Engert (Frau) und Peter Waros (Mann).
Ein überaus sehenswerter, beeindruckender, zuweilen emotional aufwühlender Abend über ein Thema, dem sich jeder einmal stellen muss.