Zuneigung und Grausamkeit wohnen in derselben Seele
Ein Haus auf dem Lande. Der Schauplatz ist anonym, die Zeit der Handlung: jetzt. Ein Mann und eine Frau sitzen in einem Wohnzimmer und reden. Rebecca und Devlin sind ein Paar. Sie sprechen über die Gegenwart und über die Vergangenheit, die ihnen nur zum Teil gemein ist. Rebecca berichtet zum Beispiel über eine merkwürdige Liebesaffäre, bei der ihr Liebhaber sie zwang, seine Faust zu küssen. Und seine Hand auf ihre Kehle legte. Und doch sagt sie: „Er betete mich an.“ Wer ist dieser Mann, den sie als Reiseleiter beschreibt? Mit dem sie durch eine seltsame, feuchte Fabrik ging, wo die Arbeiter ihre Kappen zum Gruß vor ihm zogen. Führte er doch ein strenges Regiment, so seine Erklärung. Der als Reiseführer („Er war ein Führer.“) schreienden Müttern ihre Babys wegriss. Und wer waren diese vielen Leute, die sie von ihrem Haus in Dorset aus beobachtete? Von Führern geleitet, gingen sie über den Strand und ins Meer „und ihre Taschen tanzten auf den Wellen“. Devlin versucht immer wieder, Klarheit zu gewinnen - was berichtet sie ihm? Ist es so geschehen? Er fragt nach und bekommt doch nie eine zufriedenstellende Antwort. Rebecca weicht aus, bringt immer neue Details ins Spiel und lässt sich kaum auf real existierende Fakten ein. Nur einmal, als er sie fragt, ob sie ihre Schwester Kim besucht habe. Fast geistesabwesend erzählt sie von ihrem Besuch bei Kim, von den Fortschritten des kleinen Neffen und der kleinen Nichte. Devlin versucht immer wieder, einen Zugang zu ihr zu bekommen. Auch räumlich. Wenn sie nebeneinander sitzen.
In dieser absolut ungeklärten Beziehung passt das sehr außergewöhnliche Bühnenbild, ja das ganze Konzept der Inszenierung. Koen Tachelet lässt 50 Zuschauer auf der Bühne der Kammerspiele Platz nehmen. Ein Sammelsurium von Stühlen, Hockern und Sesseln bietet genug Sitzmöglichkeit. Der Boden glänzt silbrig, die Decke besteht aus hellen Glasflächen. Der Zuschauerraum an sich bleibt leer. Alles spielt sich auf der begrenzten Bühnenfläche ab. Elsie de Brauw und Guy Clemens spielen zwangsläufig im engen Kontakt mit den Zuschauern. Sie sind fast immer in Bewegung, häufig an genau entgegengesetzten Polen der Spielfläche. Dann wieder kommen sie zueinander, bleiben einen Moment zusammen, um gleich darauf wieder getrennte Wege zu gehen. Das Publikum erlebt hautnah jeden Blick, jede Geste mit, wir sind so Teil der Inszenierung. Devlin fragt sich, was von all den Dingen, die Rebecca erzählt, wahr sein könnte. Was nur Einbildung oder vorgetäuscht ist. Denn nicht alles, was sie berichtet, ist rational zu erfassen. Warum bezeichnet sie einen Stift, der zu Boden fällt, als unschuldig und fügt hinzu, er habe keine Eltern. Hat sie selber ihr Baby auf einem Bahnhof von einem nicht näher beschriebenen Mann abgenommen bekommen?
Harold Pinter (1930-2008), britischer Autor und Nobelpreisträger, rückte in seinen späten Werken politische Themen mehr in den Vordergrund. Pinter, dessen Vorfahren osteuropäische Juden waren, befasst sich in Asche zu Asche (1996) mit der Shoah. Wie zahlreiche, zum Teil bewegende Bilder, die Rebecca zeichnet, belegen.
Man muss sich als Zuschauer an dem gut einstündigen Abend auf diese emotionale Gemengelage einlassen, die Unwägbarkeiten zur Kenntnis nehmen. Und das Spiel der beiden exzellenten Schauspieler genießen. Dann erlebt man ein höchst aufregendes Theaterexperiment, ein Nachdenken über Lüge und Wahrheit.