...bis ins dritte und vierte Glied
Die Rückwand der Bühne scheint nach vorne geklappt, wie eine erdrückende Wand hängt sie über einem sandigen Bühnenboden, auf ihrer Unterseite sind weiße Wolken auf hellblauem Grund zu erkennen: da ist wohl der Himmel im Begriff, auf die Erde zu stürzen. Von ganz hinten, wo sich Himmel und Erde berühren, kommen vier bizarre Figuren nach vorne gekrochen. Die dick aufgetragene schmutzig-weiße Schminke macht sie alterslos, grotesk anonym. Wie ihre Gesichter wirken auch ihre Kostüme seltsam aus der Zeit gefallen: locker zusammengehaltene Gewänder aus bunten Kleiderfetzen wie vom Lumpenball schlottern an ihnen herum; nur der „Alte“, überzeugend gespielt vom 31jährigen Thomas Kitsche, krabbelt in schmuddeliger Unterwäsche mit üppiger Windelhose auf allen Vieren auf die Bühne. Tief gebückt unter der erdrückenden Himmelslast beginnen die pittoresken Gestalten mit ihren absurden Texten, die dem Publikum schon einige Aufmerksamkeit abverlangen. Es bleibt ihm nichts, als Thomas Freyer auf dem Weg seiner ganz eigenen Arbeitsweise zu folgen, die er so beschreibt: „Herantasten. Einer Sache auf die Spur kommen. Einer Frage. Figuren tauchen auf. Sprachsplitter. Erste Sätze. In einen fremden Mund gelegt. Unpassend manchmal. Störrisch. Ein falscher Geschmack darin. Ein angestrengtes Daraufherumkauen.“
Wenn wir uns einlassen auf das Daraufherumkauen, auf diese oft wirr anmutenden Satzfetzen und Ein-Wort-Sätze, auf diese Wiederholungen und Andeutungen, dann entwickeln sich allmählich bedrohliche Zusammenhänge und Ahnungen. Diese vier Figuren befinden sich in einer unbestimmten, postapokalyptischen Zeit in einem verkommenen, verdorrten Territorium irgendwo an einer Küste, von allem Lebenden abgeschottet durch eine unüberwindliche Mauer, die nachts auf mysteriöse Weise zu wachsen scheint. Setzen wir die Sprachsplitter zusammen, so erfahren wir, dass Magel, der gekrümmte Alte, einige Geheimnisse hinter seiner Demenz verbirgt, von denen seine Tochter Zauda nur Kindheitsahnungen mitschleppt. Virtuos, wie Cathleen Baumann pendelt zwischen kindlicher Naivität und Alters-Amnesie, zwischen Behändigkeit und Erschlaffen, zwischen Wissen und Verdrängen. Sie versucht, die Gruppe zusammenzuhalten, die Illusion einer besseren Zeit aufrechtzuerhalten, eine Illusion, die die nächste Generation längst aufgegeben hat. Sie schleppt die ererbten Traumata mit sich herum und versucht, sich zu befreien. Die erwachsene Tochter Byosch (Madeline Gabel), üppig in dunkelrotem Flattergewandt, wird - obwohl eine Nachgeborene - in Träumen und Visionen von den Gräuelbildern der verdrängten Vergangenheit gepeinigt, erstarrt immer wieder zur drohenden Kassandra, während der behäbige Bruder Ander (Alexej Lochmann - in manchen Szenen ein Beckett-Zitat) sich blutige Hände holt beim Tunnelschürfen, wohl ahnend, dass der Graben ihn eher verschütten als befreien wird. Schon nach dem ersten Akt ist klar: unter dieser sandigen Oberfläche verbirgt sich eine böse Vergangenheit, die früher oder später ausgebuddelt werden wird.
Licht aus. Dann stehen die Vier oben auf dem Balkenhimmel, der sich inzwischen etwas hob, und rezitieren chorisch einen poetischen Text, in dem bruchstückhaft in Kunstsprache ohne Punkt und Komma einige Hinweise aufs Geschehen auftauchen. Wir hören von Jahrzehnten die vergraben liegen - vergessenen Ereignissen - rückwärtiger Zeit, aber auch von Panzern und fremden Offizieren sowie dem befohlenen Schweigen der Kinder.
Dieser Wechsel zwischen Chor und Spielszenen wird sich mehrfach wiederholen. Ein Regieeinfall, der sich leider schnell verbraucht, da der Chor nichts Neues hinzufügt und das Geschehen schon sehr bald vorhersehbar wird.
Vorerst geht es unten weiter. Eine neue Figur betritt die Bühne, bricht die klaustrophobische Endzeitstimmung auf. Sie kommt von jenseits der Mauer, aus dem Kontinent der Lebenden. Während die Ausgestoßenen noch immer gebückt umherschleichen, sich im Sand wälzen und wahllos darin buddeln, steht die Fremde aufrecht am Bühnenrand, elegant gekleidet im schwarzen Jumpsuit mit Spitzeneinsatz und Tüllärmeln. „Mein Name ist Suu. Ich komme vom Kontinent. Meine Firma hat mich hergeschickt“, stellt sie sich den Abgeschotteten wie selbstverständlich vor. Dann fallen programmatische Begriffe wie Konzern, Montagehallen, Expertise und Auftraggeber, das alles in beflissenem, gleichsam elaboriertem Sprachcode. Doch es sind die beiden jungen Leute, die der Fremden (Anna-Sophie Friedmann) nicht trauen, ihr den Auftrag nicht glauben. Doch ihr Argwohn bleibt im Dunkeln, mag sein, dass Suu auch auf dem Kontinent als Fremde, die aus dem fernen Süden kam, ausgegrenzt wurde. Ihr südländisches Aussehen macht sie verdächtig. Am Ende ist tatsächlich alle Selbstsicherheit von ihr gewichen: verstört und zerzaust sitzt sie blutverschmiert am Boden. …wie ein Tier ein verletztes Tier das Blut verklebt im dichten Fell vorüberflieht…übernimmt Suu selbst den Text des Chores.
Es ist Byosch, die in einer apokalyptischen Vision das Massaker der Einheimischen an den Menschen im ehemaligen Lager aufdeckt. Es waren Geflohene auf dem Weg zum nahen Kontinent, die hier festgehalten und erschlagen wurden. Die Toten wurden im Sand verscharrt. Das Verbrechen geschah an eben diesem Ort. Magel, der Großvater, war einer der Täter. Ander, der Enkel, dreht ihm dafür knackend auf der Bühne den Hals um. Eine brutal realistische Szene in der sonst eher distanziert absurden Aufführung. Dabei sind es gerade die Bilder, die Gehlen für die Traumata der Enkelgeneration findet, die überzeugen, während insgesamt Dramaturgie und Regie wenig ideenreich daherkommen.
Was Freyer als Dystopie entwirft, legt unverhohlen Spuren zu tagespolitischen Problemen: die Situation in den Hotspots, brennende Container in den Camps von Moria, Abschottung und Mauern in Europa. Am Rande auch Investment- und Bodenspekulation, Othering und Erderwärmung. Diese Überfrachtung gibt dem Text eine unnötige Beliebigkeit.
Es sind wieder einmal die tollen Schauspieler*innen, die aus dem Abend - trotz aller Schwächen - ein lohnendes Theatererlebnis machen.