Die Liste der Vernichtungen verlängert
Rechts trocknen zwischen zwei Erzählsträngen die Schüler einen Stapel vollkommen durchnässter Bücher. Links werden verbrannte alte Schwarten zu einem Scheiterhaufen aufgeschichtet. Der Versuch zur Rettung der Kultur steht der Vernichtung der Kultur gegenüber. Staat zu machen ist mit dem nicht, was da aufgeschichtet oder verbrannt wird.
Die Bildungsmisere ist nicht nur ein deutsches Problem. Wahrscheinlich ist sie ein gesamteuropäisches - oder gar ein globales Phänomen unserer Zeit. Andrea Marescalchi, Geschichts- und Philosophielehrer an einem italienischen Gymnasium, ist desillusioniert von der Malaise, der er sich gegenübersieht. Der Mai, so konstatiert er, sei für einen Geschichtslehrer der grausamste Monat: Der Lehrplan sieht in der Abschlussklasse die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor, doch im Stoff ist man so weit zurück, dass man kaum die Geschichte des 2. Weltkriegs behandeln kann. Geschweige denn die der übrigen Massaker, die dieses Jahrhundert aufzuweisen hat...
Auch Simone Derai, der Regisseur der Aufführung, und der Autor der noch nicht ins Deutsche übersetzten Romanvorlage Antonio Scurati sind Italiener. Die Aufführung folgt eng der Struktur des Romans: Sie beginnt mit dem Missmut des Lehrers über die Unerfüllbarkeit des Lehrplans, der keine Zeit für die Vermittlung eines Wertesystems lässt. Dann folgen in Form von langen Monologen Rückblicke auf drei Unterrichtsstunden, bevor die Zeit wieder vorspringt - zur Schilderung des Desasters, das Andrea Marescalchi, den wir längst als modernen Sokrates identifiziert haben, überlebt. Noch hält Marescalchi die Fahne des Idealismus hoch. In den drei exemplarischen Unterrichtsstunden platziert er bei den Schülern jeweils ein ihm wesentlich erscheinendes Anliegen. Da sind zum einen diese Massaker. Dabei handelt es sich nicht nur um die Nazi-Barbarei, den Kessel von Stalingrad oder - auf der Gegenseite - den stalinistischen Terror. Maos „großer Sprung nach vorn“ forderte Millionen an Opfern, General Suharto administrierte in Indonesien den Massenmord an Mitgliedern und Sympathisanten der Kommunisten, Pol Pot und die Roten Khmer bildeten ein grausames Terror-Regime in Kambodscha. Völkermorde in Osttimor, der Genozid in Ruanda, die Sezessionskriege im Südsudan, die Desaparecidos in den Diktaturen Chiles und Argentiniens und vieles andere mehr - Marescalchi zählt die Massaker alle auf. Es bleibt nur Zeit für „das Abhaken einer Liste von Vernichtungen“, bedauert der Lehrer. Doch er tut das mit einer solchen rhetorischen Kraft, dass es weder die Schüler noch die Zuschauer kalt lässt.
Mit dem Tod hat auch die zweite Unterrichtsstunde zu tun. Vor allem aber mit der Liebe: Marescalchi stellt sich der kaum zu bewältigenden Aufgabe, in einer einzigen Unterrichtsstunde die Periode der Romantik zu behandeln. Für eine Vernetzung mit der Philosophie bleibt keine Zeit. Und so berichtet er von Kleist, von der „Liebe als Endzweck der menschlichen Geschichte“. Wir wissen, Heinrich von Kleist und seine Freundin Henriette Vogel brachten sich, beide Anfang 30, am Wannsee um. Nicht aus Liebe, sondern aus unterschiedlich begründeter Verzweiflung - Marescalchi aber singt das Hohelied der selbstlosen romantischen Liebe. Und er tut das mit einer solchen rhetorischen Kraft, dass sich eine Begründung für die aus der Liebe resultierende humanistische Haltung und menschliche Zugewandtheit erübrigt.
In der dritten Unterrichtsstunde steht der Tod unmittelbar bevor. Es geht um den Tod des Sokrates - eines Mannes, so schwärmt der Lehrer, „dem es gelingt, die letzten Stunden seines Lebens dem Denken zu widmen.“ Marescalchi verwandelt das Klassenzimmer mit rhetorischen und filmischen Mitteln in ein Athener Gefängnis. Er will „Sokrates mit einer Würde sterben lassen, die sie (die Schüler) nie wieder vergessen“ werden. Bernhard Glose als Lehrer kündigt das mit solcher Überzeugungskraft an, dass sich beim Zuschauer Gänsehaut einstellt. Auf einer Leinwand agieren in antikisierende Gewänder gekleidete Gestalten. Der in blassen Farben gehaltene Film stammt aus der ebenfalls von Simone Derai besorgten italienischsprachigen Uraufführung des Stücks aus dem Jahre 2016, der die Aufführung am Theater an der Ruhr Mülheim exakt nachgebaut wurde. Für diesen Teil der Aufführung steht Platons „Phaidon“ Pate. In Platons Text werden die letzten Stunden des Sokrates vor seiner Hinrichtung einschließlich einer ausführlichen philosophischen Disputation zur Unsterblichkeit der Seele wiedergegeben. Anschließend folgt in der Aufführung ein messerscharfer philosophischer Dialog zwischen Sokrates und seinem Schüler Alkibiades, der die Genauigkeit des Denkens schult und zu Alkibiades‘ Schwur führt, sich künftig mehr um Gerechtigkeit zu bemühen. „Ich habe Angst, weil ich die Stadt kenne und befürchte, dass sie die Oberhand über dich und mich gewinnt“, entgegnet Sokrates skeptisch - und nicht zum ersten Mal in dieser antiken Diskussion sind wir wieder im Hier und Heute. (Alkibiades wurde zu einem umstrittenen Staatsmann, dessen Kriegszüge und egomane Machtpolitik die attische Demokratie in Gefahr brachten.) Der Lehrer und einer seiner Schüler sprechen die Texte der Filmfiguren und ahmen ihre Bewegungen nach - und sie tun das mit solcher Suggestionskraft, dass die komplexen, anspruchsvollen philosophischen Diskurse weder die Schüler noch die Zuschauer kalt lassen.
Es sind drei furiose Monologe, in denen Bernhard Glose als Marescalchi diese Rückblicke auf die drei Unterrichtsstunden vorträgt. Fast immer steht er mit dem Rücken zum Publikum, während die nahezu während der gesamten Aufführungsdauer stumm bleibenden Schüler den Zuschauer anblicken. Gloses Monologe schlagen den Zuschauer mit ihrer Kraft und Intensität in den Bann - wie müssen sie erst auf die heranwachsenden Schülerinnen und Schüler in Marescalchis Klasse wirken? Acht Schauspielschülerinnen und -schüler aus Köln bilden diese Gruppe von Schülern. Auch wenn die acht Schauspielschülerinnen (fast) keinen Text haben, gibt es Reaktionen der Schüler auf die drei Monologe. Selbst als Erwachsene haben wir uns die ungeheure Anzahl der Genozide in den letzten hundert Jahren niemals so verdeutlicht. Vitaliano Cacci kommt, wie Marescalchi beschreibt, nach der Stunde aufgeregt auf den Lehrer zu und fordert: „Dazu muss es doch noch etwas zu sagen geben! Man kann doch nicht den Massakern das letzte Wort überlassen!“ Aber für Erklärungen bleibt keine Zeit.
Cacci ist wohl der neunte Schüler der Klasse, dessen Platz leer bleibt. Der Lehrer, wir erinnern uns, berichtet über seine Unterrichtsstunden ja nur in Rückblenden. - Aufwühlend ist Marescalchis Erzählung über die extremen Folgen des höchsten romantischen Idealismus. Zutiefst verwirrend erscheint der Widerspruch zwischen der erkennbaren Desillusionierung des Lehrers und seinem Plädoyer für Zukunftshoffnung angesichts der Unsterblichkeit der Seele. Weinend tritt Lisa vor: Sie kann nicht an die Unsterblichkeit der Seele glauben - und sie erkennt, dass auch Marescalchi nicht daran zu glauben vermag. Glaubte etwa Sokrates daran? - Die Erzählung hat Fragen aufgewühlt und die Seelen der Schüler berührt, doch es gibt keine Zeit, sie zu beantworten. Weinend bleibt Lisa zurück.
Mit dieser kurzen Szene zitieren Scurati und Derai ein Motiv aus Cees Nootebooms „die folgende Geschichte“. Nootebooms Protagonist, der Griechisch- und Lateinlehrer Mussert, berauscht sich an den Erzählungen von Sokrates‘ Tod und wird von seinen Schülern Sokrates getauft. Auch er deklamiert vor seiner Klasse die Todesszene des Philosophen, wobei er, wie es heißt, eigentlich nur zu seiner Lieblingsschülerin Lisa spricht, die die toten Sprachen und klassischen Mythen erst lebendig mache. Sowohl Mussert als auch Marescalchi assoziieren Lisa mit der Figur des antiken Kriton, dem Freund des Sokrates, der sich weniger für Philosophie interessiert als dass er sich um die praktischen Angelegenheiten der Sokrates’schen Kommune kümmert. Auch bei Nooteboom kommt es zu einer langen Diskussion zwischen Lisa und dem Lehrer über die Unsterblichkeit der Seele. Marescalchi trägt sowohl Züge des antiken Sokrates als auch des niederländischen Lehrers Mussert.
Die Schüler bleiben in Simone Derais Inszenierung ansonsten eine anonyme Masse. Sie stehen für die Gesellschaft, für eine Gruppe, der der Lehrer mit seinem Vorbild und seinem Idealismus Bildung und - wichtiger noch - einen Wertekompass vermitteln will. Während nur Lisa und der abwesende Vitaliano Cacci als Individuen aus der Gruppe heraustreten, reagiert die Gruppe als solche sehr eindrucksvoll: Zu einem fast über die gesamte Spieldauer pochenden Soundtrack, der auch den mitreißenden Rhythmus von Bernhard Gloses Sprache unterstützt, bewegen sie sich mal mit minimalistischen Tanzbewegungen, mal in kleinen Choreographien. Gleich nach dem ersten Rückblick, der Unterrichtsstunde über die Massaker, die so unerklärt im Raum stehen gelassen wurden, entwickelt sich ihre Choreographie zu einer der eindrucksvollsten Tanzszenen des Theaterjahres. Wir hatten gehört: Vitaliano Cacci hatte rebelliert gegen die Sprachlosigkeit. Nun schwillt die Musik an. Sie nimmt den Sound von Schüssen und Explosionsgeräuschen an. Die Schülerinnen und Schüler schließen nach und nach die Augen. In Zeitlupe sinken sie von ihren Stühlen und bleiben in unnatürlichen Körperhaltungen liegen. Der Soundtrack wird lauter und lauter.
Müssen wir die Szene erklären? Sie weist auf das Ende hin, das ja eigentlich am Anfang dieser mit immer weiter zurückgreifenden Rückblenden arbeitenden Inszenierung stehen müsste. Vitaliano Cacci soll am Ende zu einer Nachprüfung antreten. Das Kollegium verurteilt ihn voller Arroganz und möchte ihn durchfallen lassen. Nur Andrea Marescalchi steht zu ihm, will seine Verspätung entschuldigen. Auf den letzten Drücker wird Vitaliano erscheinen. Als er alle Lehrer erschossen hat, setzt er sich ganz ruhig auf den Platz des Prüflings. Dann tritt er hinaus ins Freie und „wird vom Licht geschluckt wie man von der Dunkelheit geschluckt wird.“ Der langen Liste von Vernichtungen ist ein weiteres Massaker hinzugefügt worden. Nur seinen Geschichts- und Philosophielehrer hat der Attentäter verschont. Dessen Bemühen um Weltverbesserung, dessen idealistische Haltung hat er anerkannt. Marescalchi ist einsam. Was hat er falsch gemacht? Auf der Leinwand flimmert das Bild vom Tod des Sokrates.