Atlas im Wuppertal, Schauspielhaus

Geschichte in der Zeitschleife

„Schon damals trieben die Toten im Wasser.“ Am Schauspiel Wuppertal spielt Julia Wolff die Großmutter in dieser Drei-Generationen-Geschichte. Sie war eine von den Boat People, die in der 2. Hälfte der 1970er Jahre mit überfüllten, kaum seetüchtigen Schiffen aus dem kriegszerstörten Land vor dem Terror der siegreichen Vietcong flüchteten. Die Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam war eine Vereinigung, die viele Opfer kostete.

Die Großmutter lebt wieder in Vietnam. Sie war am Ende ihrer Flucht in der Bundesrepublik Deutschland gelandet - sicher ein Glück. Doch ihre Tochter hatte sie auf der Flucht verloren. Gemeinsam hatten sie sich auf das Boot gerettet, das sie auf die malaysische Flüchtlingsinsel Pulau Bidong bringen sollte. Das Kind war vom Boot gerutscht, seine Mutter glaubt es ertrunken. Doch die Tochter wurde gerettet. Sie wuchs in einer regimetreuen Pflegefamilie auf und ging Ende der 1980er Jahre als Vertragsarbeiterin in die DDR. Vertragsarbeiter - das waren billige ausländische Arbeitskräfte, freigegeben zur gnadenlosen Ausbeutung. Ihre Lebensbedingungen glichen denen in einem Internierungslager. Krankheiten und Schwangerschaften führten zur sofortigen Ausweisung. Maschinenlärm sowie eine einsame altmodische Nähmaschine, die abwechselnd von Philippine Pachl (der Tochter) und Thomas Braus (der einen anderen Vertragsarbeiter und den Dolmetscher in der Fabrik spielt) bedient wird, deuten in Jenke Nordalms Inszenierung das stupide Basteln und Werken im sozialistischen Bruderstaat an. Unsere Vertragsarbeiterin verliebt sich in den Dolmetscher - und wird schwanger.

Rechtzeitig bahnt sich die Wende an. Aufseher und Staatsbeamte haben etwas anders vor als sich um die schwangere Vietnamesin zu kümmern. „Wir sind das Volk“, skandieren die Brüder und Schwestern in der DDR. Doch aus der Perspektive der Vertragsarbeiter(innen) klingt die Parole bedrohlich. Mit dem „Wir“ sind sie nicht gemeint. Sie gehören nicht dazu; immer offener werden sie als „Fidschis“ diffamiert. Sie geraten vorübergehend in die Illegalität und tauchen ab. Auch unter den neuen Bundesbürgern fühlen sich nicht alle durch den „Anschluss“ beschenkt: „Wann sag ich wieder mein und meine alle“, dichtete der zuvor durchaus regimekritische ostdeutsche Autor Volker Braun. Die Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands war eine Vereinigung, die manche Opfer kostete.

Eine Generation später reist die Tochter der Vertragsarbeiterin nach Vietnam, um nach ihren Wurzeln zu suchen. Sie trifft auf ihre Großmutter, doch es herrscht Sprachlosigkeit. Widerwillig fährt Großmutter schließlich mit der Enkelin nach Pulau Bidong, ohne allzu viel von der Vergangenheit preiszugeben. Erneut gibt es kein Wir, nirgends. Es herrschen nur Ängste und Traumata. Eine Wiedervereinigung der Familie findet nicht statt: Oma macht nicht mit; der Besuch der Enkelin hat möglicherweise alte Wunden aufgerissen.

Nicht dass Sie denken, Thomas Köck erzähle Ihnen diese Geschichte dreier vietnamesischer Migranten-Generationen von Frauen so chronologisch und transparent wie der Rezensent das gerade versucht hat. Köck hat einen lyrischen, geschichtspessimistischen Text geschrieben, in dem die Verse keiner vorgeschriebenen Figur zugeordnet und die Zeit- und Handlungsebenen kunstvoll miteinander verwoben und. Erst nach und nach schälen sich die Charaktere und die einzelnen Geschichten für den Zuschauer nachvollziehbar heraus. Es bleibt sogar im Ungefähren, ob sich Großmutter und Enkelin erkennen und ob und wie weit sie sich einander schließlich annähern. Köck geht es weniger um die konkrete Geschichte als vielmehr um die Wiederholbarkeit von Geschichte und die Funktion und den Charakter der Zeit.

Die Geschichten der drei Frauen, die in drei verschiedenen Zeiten spielen, werden so weit wie möglich parallelgeschaltet. Ein Sinnbild für das Vergehen respektive den Stillstand der Zeit ist der 48stündige Zwangsaufenthalt der jungen Frau am Flughafen von Saigon, mutmaßlich aufgrund eines Vulkanausbruchs (der Eyjafjallajökull lässt grüßen). (Stets ist, obwohl diese Szenen im Vietnam der Jetzt-Zeit spielen, von Saigon die Rede, dem Namen der Stadt vor der Machtübernahme der Vietcong, nie vom heutigen Ho-Chi-Minh-Stadt: Die Zeit steht still.) Köck konstruiert eine Art Zeitschleife, in der er seinen Blick auf Migrantenschicksale, auf Flucht, Heimatlosigkeit, Ausbeutung und Fremdenfeindlichkeit wirft. Was er beschreibt, beansprucht Allgemeingültigkeit: Zwar ausgestaltet in einer konkreten Familiengeschichte, beschäftigt Köck doch in erster Linie das Universale, Unvergängliche, vielleicht gar zwanghaft Wiederholbare solcher Schicksale. Die Bezüge zur aktuellen Flüchtlingskrise und zur neuen Fremdenfeindlichkeit sind offensichtlich: Das Schicksal der vietnamesischen Boat People im Südchinesischen Meer gleicht dem der heutigen Flüchtenden im Mittelmeer bis ins Detail; der unterschwellige oder auch offene Rassismus gegenüber den „Fidschis“ in der DDR erscheint wie ein Vorläufer der diskriminierenden und fremdenfeindlichen Behandlung der heutigen Migranten durch weite Teile unserer Gesellschaft.

Thomas Köck hat für sein anspruchsvolles, geschickt konstruiertes Sprachkunstwerk den Mülheimer Dramatikerpreis 2019 erhalten. Die Leipziger Uraufführung (siehe hier), die im Rahmen des Wettbewerbs im Mai 2019 in Mülheim gezeigt wurde, befand sich auf der Longlist für das Berliner Theatertreffen 2020. Sie betonte die lyrische Qualität des Stückes sowie die geschichts- respektive zeitphilosophische Betrachtung des Autors und erweiterte sie sogar bis hin zu einem Hinweis auf die französische Kolonialgeschichte Vietnams sowie um eigenständig entwickelte visuelle und fremdsprachliche Elemente. Dadurch wirkte sie versponnener und rätselhafter als die Wuppertaler Arbeit und nahm atmosphärisch schneller gefangen. Dem Charakter des Texts wurde dies auf kongeniale Weise gerecht. Nordalm dagegen bemüht sich, das Gestrüpp der wechselnden Zeitebenen zu lichten und die Geschichte konkreter und verständlicher zu erzählen. Aus den konkretisierenden Szenen schöpft Nordalms Inszenierung ihre Intensität: Wenn Julia Meier als Enkelin und Julia Wolff als Großmutter einander umkreisen, die eine im Wunsch nach einem Gespräch, die andere in der Angst, alte Wunden könnten wieder aufgerissen werden. Wenn Wolff schließlich doch widerwillig von den Erlebnissen der Flucht nach Pulau Bidong berichtet. Wenn Philippine Pachl von der Rettung des untergegangenen Kindes erzählt.

Auch vereinzelte Video-Bilder auf dem Halbrund der Bühnenrückwand und die akustische Einspielung von Zeitdokumenten dienen der Konkretisierung, schaffen Atmosphäre und wecken die Empathie des Zuschauers: Zur Wendezeit werden freudlose Plattenbauten gezeigt; fragmentarisch vernimmt man die Stimmen von Kohl und Honecker - und das „Wir sind das Volk“ bekommt aus der Perspektive der Vietnamesinnen etwas Rassistisches. Man glaubt, das heutige Pegida-Gegröle zu vernehmen. Wer ist eigentlich Wir? Auch diese Frage stellt Köcks lyrisches Drama. Vier Staaten, drei Frauen, drei Wiedervereinigungen. Doch immer gibt es Vereinigungsverlierer. - „Was heißt das schon, Vereinigung?“, heißt es am Ende der Wuppertaler Inszenierung. Nicht wer müsse die Frage lauten, sondern gegen wen.