Die weiße Hölle des König Lear
Das Programmheft gibt einen deutlichen Hinweis auf die Interpretationsabsicht. Es fasst Ernst Kantorowiczs Studie „Die zwei Körper des Königs“ aus dem Jahre 1957 zusammen, der zufolge der mittelalterliche Monarch neben seinem sterblichen biologischen Körper über einen unsterblichen politischen Körper verfügt. Der erste ist menschlich, vergänglich und hat biologische Schwächen, der zweite überdauert und steht für die Würde und die Macht des Amtes. Er ist das Denkmal. Nicht erst in unseren unheroischen, autoritätskritischen Zeiten kann das Denkmal schnell hohl werden.
Bernd Braun ist König Lear in Luise Voigts im Wesentlichen auf diesem Konzept fußender Inszenierung. Sein biologischer Körper wird angekleidet, der gesamte Hofstaat steht um ihn herum, hilft ihm, stützt ihn. In der Mitte liegt zusammengekauert eine riesige Puppe, die die Züge des Königs (also die Züge von Bernd Braun) trägt und ein wenig an die Figuren erinnert, die manchmal die Bühnenbilder von Ersan Mondtag bevölkern. An Seilen wird die Puppe aufgerichtet zu einem monumentalen Denkmal von drei- bis vierfacher Lebensgröße: des großen Königs political body. Doch der König ist müde. Mit schwerer Zunge beginnt Lear zu sprechen: „Wisst, dass wir unser Reich geteilt in drei!“
Gelächter. Hässliches Gelächter. Zerlegt sich da einer selbst? Indem Lear sein Reich gemäß des Ausmaßes der vorgeblichen Liebe seiner Töchter aufzuteilen beginnt, hebt er die Trennung zwischen dem erkennbar altersschwachen biologischen (also privaten) Körper und dem unangreifbaren, unsterblichen politischen Körper auf. Der politische Körper wird angreifbar; die Macht und die Würde erodieren im Rekordtempo. Goneril und Regan antworten auf die Frage, welche von ihnen den Vater am meisten liebe, ein letztes Mal unterwürfig, in gebückter Haltung die eine, angstvoll stockend die andere. War ihr Vater ein Diktator? Cordelia dagegen antwortet nicht dem political body, sondern dem natürlichen Vater: Aufrecht ist ihre Haltung, aber auch ein wenig irritiert ob der unpassenden Frage. „Ich liebe Eure Hoheit wie es sich geziemt, nicht mehr und nicht minder.“ Übrigens: Vater donnert sofort los, cholerisch, aufbrausend. Ja, er war wohl ein Diktator.
Der nun alle Macht abgegeben hat. Die riesige Puppe steht nicht wie Hermann der Cherusker im Teutoburger Wald, sondern sie schwankt im Wind. Mal reckt sie sich stolz (aber auch wie das Denkmal eines vergangenen Herrschers) zum Widerstand empor, mal sackt sie auf die Knie wie ein Buddha nach einem Genickschlag, und wenn es für Lear ans Sterben geht, dann fällt sie in sich zusammen wie ein paar leere Müllbeutel. Gebeugt stehen längst nicht mehr Regan und Goneril, sondern der einstmals große König: In einem der großartigsten Bilder der Inszenierung steht Bernd Braun unmittelbar nach der Pause vornübergebeugt, frierend vor einem gigantischen Video mit sturmumtoster Heide unter düsteren Gewitterwolken. Roland Riebeling als Kent, neben dem Narren Lears einziger verbliebener treuer Begleiter, befindet sich neben ihm und spricht – stumm. Seine Worte werden als Schriftbild auf dem Videoscreen eingeblendet. Die Puppe aber, des Königs political body, liegt lang ausgestreckt auf dem Bauch mit Blick zur Leinwand, von der noch mehr Unheil droht.
Bühne und Kostüme sind ganz in Weiß und verschiedensten Schattierungen von hellem Grau gehalten. Das wirkt kalt, klinisch geradezu. In dieser weißen Hölle wird Lear, nachdem er einmal abgedankt hat, sich nicht mehr behaupten können. Das Bühnenbild und die Metapher des vergeblich sich gegen den Untergang aufbäumenden political body sind überzeugend. Aber gegen diese Metapher muss die Regisseurin auch dreieinviertel Stunden lang ankämpfen. Um den monumentalen political body herum lockert Luise Voigt das Spiel nicht auf, sondern sie zwingt die Schauspieler in ein strenges Bewegungskonzept. Vielen ihrer Figuren gibt sie eine wiedererkennbare choreografische Marotte mit: Sandrine Zenner als Regan und Holger Kraft als Cornwall trippeln wie Automatenfiguren immer exakt einander gegenüber auf den Fugen der Drehbühne und sind dadurch als Paar identifizierbar, während die harte, aber scheinbar stets solo auftretende Sophie Basse als Goneril und Sören Wunderlich als ihr Gatte Albany (ein spindeldürrer Riese mit grotesker roter Hochfrisur) kaum miteinander verbunden zu sein scheinen. Die spiegelbildliche Ablehnung Lears an den Höfen beider älteren Töchter interessiert die Regisseurin nicht. Alois Reinhardt irrlichtert als zum „irren Tom“ verkleideter Edgar virtuos zuckend, körperlich verdreht und verschraubt, aber charismatisch über die Bühne, während sein intriganter Halbbruder Edmund bei Christoph Gummert als blondiertes Dummchen zwar körperlich gesund erscheint, aber dennoch oft den aufrechten Gang verfehlt. Roland Riebeling gibt den Kent, der sich unter falschem Namen bei Lear als treuer Diener verdingt hat, als witzigen Narren. Den Brief an Regan, mit dem er die Ankunft Lears und seines Gefolges ankündigen soll, transportiert er zu Pferde: auf einem Gymnastikball. Der eigentliche Narr wird kokett, charmant und frech von Lena Geyer gespielt, die auch die „gute“, aber verstoßene Tochter Cordelia gibt, aber in Voigts Konzept-Aufführung nur mit gebremstem Schaum auftreten darf. Auch Bernd Braun scheint an die Kette gelegt: Der große König, der zum großen Irren wird, deklamiert manches Mal reichlich hohl. Aber dafür haben wir ja schon eine Erklärung gefunden.
Ohnehin sind es in Lena Voigts hochartifizieller, die Schauspieler extrem eng führender Inszenierung nicht die Akteure, die überzeugen, sondern die Bilder: der auf dem Bauch liegende oder kraftlos verpuffende political body, das stürmische Meer und die Heide, der einsam auf der Ruine eines Kriegsbunkers kauernde Lear, ein tänzerischer, überzeugend choreografierter Ringkampf zwischen den verfeindeten Brüdern Edmund und Edgar, die optische Angleichung des irre gewordenen Lear an den einen Irren spielenden Edgar. Der König glaubt im irren Tom eine Art Alter Ego zu erkennen: „Gabst du alles deinen Töchtern? Ist’s Mode jetzt, die Väter wegzujagen?“ Lichtblitze blenden, wenn Menschen angegriffen werden und sterben. In ihren ersten beiden Inszenierungen am Schauspiel Bonn, Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und Becketts Warten auf Godot, die jeweils in der kleinen Spielstätte, der Werkstatt, zu sehen waren, hatte Voigt gezeigt, dass sie vor allem eine Klangkünstlerin ist, die mit choreografierten Bewegungen arbeitet und deren Inszenierungen meist durchgängig rhythmisiert und stilisiert sind. Doch zur Partitur wird der Text diesmal nicht. Friederike Bernhardts düsterer elektronischer Klangteppich, der für sich genommen durchaus eindrucksvoll ist, bleibt merkwürdig unverbunden mit den choreografierten Bewegungen der Schauspieler. Es gelingt nur vereinzelt, Shakespeares originelle Sprachbilder zum Klingen zu bringen. Oftmals wird deklamiert; auch manieriertem Pathos entgeht die Aufführung nicht immer. Während Luise Voigt in ihren beiden ersten Inszenierungen am Theater Bonn mit ihrem ausgeprägten Formwillen dem Publikum den Weg zu neuen Interpretationsansätzen ebnete, trägt eben dieser Formwille diesmal eher zur Verwirrung denn zur Erhellung bei. Über weite Strecken erstarrt die optisch so beeindruckende Inszenierung in ihrer Künstlichkeit.