Anatomie eines Unglücks
Für die Menschen im Ruhrgebiet gehört der 24. Juli 2010 zu den Tagen, von denen sie noch genau wissen, wo sie sich aufgehalten und was sie erledigt haben. Zwar ist es nicht - wie etwa bei „Nine Eleven“ - das Datum, das sich unauflöslich im Gehirn festgekrallt hat. Aber das Ereignis, das diesen Tag prägte, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis des Ruhrgebiets eingeschrieben. Was das größte popkulturelle Event im Rahmen des Kulturhauptstadt-Jahrs RUHR.2010 werden sollte, endete am 24. Juli 2010 in einer Katastrophe. Es war der Tag des Duisburger Love Parade Unglücks. 21 Menschen verloren in einem viel zu engen Tunnel, der als einziger Zu- und Ausgang des Love Parade Areals diente, ihr Leben; weit mehr als 500 Personen erlitten schwere Verletzungen. Bis heute wurde niemand für die offensichtlichen Fehlplanungen zur Rechenschaft gezogen. Im Februar 2019 hat die Staatsanwaltschaft Duisburg der Einstellung eines Strafverfahrens gegen sieben Angeklagte zugstimmt; die weiteren Verfahren stehen vor der Verjährung.
Kurz vor dem zehnten Jahrestag der Katastrophe hat sich das Schlosstheater Moers in einem Dokumentartheater-Projekt des Geschehens angenommen. Das Vorhaben stieß im Vorfeld bei wenig theateraffinen Menschen auf Kritik: Es sei respektlos gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen, den Tod so vieler Menschen zum Inhalt einer Theater-Show zu machen, hieß es sinngemäß. Wer so argumentierte, kannte Ulrich Greb und sein Team vom Schlosstheater Moers schlecht. Dass die Moerser zu verhindern wissen würden, dass das Erinnerungsprojekt zu einer reißerischen Show würde, war klar. Dass der Theaterabend nicht nur erschütternd, sondern auch spannend werden würde, konnte man dagegen nicht erwarten. Ulrich Greb ist ein Abend von höchster künstlerischer Qualität gelungen.
Dabei könnte der Text prosaischer und „unkünstlerischer“ nicht sein. Er besteht ausschließlich aus einer Collage aus Radio-Reportagen und -Interviews, Funksprüchen von Polizei und Ordnungskräften, Zeugenberichten und Prozessprotokollen. Doch er könnte beklemmender nicht sein. Und er beschreibt perfekt die Zwangsläufigkeit, mit der die Katastrophe eintreten musste, nachdem die Sicherheitskonzepte versagt hatten. Dabei hieß es um 13.50 Uhr noch „Alles easy“. Da betrug die Auslastung des Geländes 50 – 60 Prozent.
Das enge Verlies des Moerser Schlosstheaters ist ein dunkler, schwarzer, quaderförmiger Raum – ein Tunnel halt. Nach hinten wird der Raum begrenzt von einer Wand, unter der große schwarze Ballons eingeklemmt sind. Unbeweglich stehen die sechs Schauspieler in einheitlichen dunkelgrauen Anzügen auf der Bühne und drehen den Zuschauern den Rücken zu. Ihre Texte – das heißt die der Einsatzkräfte, der Radioreporter etc. – haben sie zuvor eingesprochen. Eindringlich, aber zunächst undramatisch klingen sie jetzt vom Band. Traumbedingungen herrschen auf dem Love Parade Gelände. Vielleicht wird man eine Rekordteilnehmerzahl erreichen und sich „unsterblich machen“, wie Radiomoderator Thomas Bug zitiert wird. Da durchzuckt den Moerser Theaterzuschauer zum ersten Mal ein Schrecken. Langsam beginnt die Atmosphäre zu kippen.
Zunächst kaum merklich, dann immer heftiger beginnen die Schauspieler zu zucken. Noch könnte es ein Tanz sein – lange wird man gelegentlich Geräusche wahrnehmen, wie sie aus der TV-Übertragung vom Love Parade Gelände, von den immer wieder steckenbleibenden „Floats“ in Erinnerung sind. Elektronisches Schlagzeug begleitet die Bewegungen der Schauspieler. Nur durch die anschwellende Lautstärke des Soundtracks wird ein Gefühl der Beklemmung beim Zuschauer ausgelöst. Constantin Hochkeppels Choreografien, nach denen sich die Schauspieler bewegen, steigern sich kontinuierlich, werden immer heftiger, je mehr die Lage auf dem Gelände zu eskalieren beginnt: „Diese ganze Million Menschen muss durch einen einzigen Eingang!“ Wir hören: Die Sanitäter können die Verletzten nicht mehr erreichen. Und gleichzeitig schwärmt der Veranstalter im Interview von der „lebenden“ Metropole Ruhr und von möglichen neuen Rekorden.
Im Moerser Schlosstheater hält die hintere Bühnenwand die Bälle nicht mehr. Nach und nach rollen die Kugeln auf die Bühne und verengen den Platz für die Schauspieler. Bald werden die Akteure nahezu vollständig verschwinden zwischen den unerbittlich auf sie zu und um sie herumspringenden Ballons. Nach 30 Minuten ist das choreografierte Stampfen und Hüpfen, das sich zu enormer Lautstärke gesteigert hatte, beendet. Es herrscht Stille – nur von ganz fern erklingt noch Musik: Im Innenraum des Geländes weiß man noch von nichts. Die schwarzen Ballons bewegen sich auf die Zuschauer zu, springen in die erste Reihe. Sie verdecken die Sonne, sie nehmen das Licht. Was für ein einfaches, sinnfälliges Mittel ist Bühnenbildnerin Birgit Angele eingefallen, um die klaustrophobische Situation vor Ort für den Zuschauer sinnlich erfahrbar zu machen! Minutenlang dauern die Aufräumarbeiten im Theater.
Im nun folgenden zweiten Teil der Aufführung wird anhand von Zeugenaussagen ein Rückblick auf die Veranstaltung geworfen und anhand dieser Aussagen sowie von und Aktenprotokollen der juristische Aspekt der Katastrophe beleuchtet. Die Schauspieler sprechen nun live, nicht mehr vom Band. Der Zuschauer macht eine eigenartige Erfahrung: Im Fernsehen sieht er stets die gleichen Bilder von Katastrophen und Gewalt und gewöhnt sich daran. Aber diese Zeugenaussagen gehen unter die Haut. Diese Schilderungen, in indirekter Rede vorgetragen, sind ein einziger Schrei. Sie erinnern an Szenen von Hieronymus Bosch oder Dante Alighieri. Aber wir wissen: Es handelt sich um Original-Augenzeugenberichten aus dem Love Parade Prozess.
Nach fünfzig Minuten ist es Patrick Dollas, der als erster in direkter Rede spricht. Wir hören Aussagen des damaligen Duisburger Oberbürgermeisters Sauerland, des Ordnungsdezernenten Wolfgang Rabe und des Geschäftsführers des Veranstalters Rainer Schaller, der Brandschutzexperten und Polizeibehörden und des Gutachters und Panikforschers. Es ist wie es immer ist: Man zieht sich auf Leerformeln zurück, zeigt mit dem Finger auf andere und hat offensichtlich schnell noch ein paar E-Mails und Dokumente verschwinden lassen. Die Sprache ist bürokratisch bis unbeholfen und von wenig Empathie geprägt – man muss sich schützen vor juristisch verwertbaren Aussagen. Die Choreografien, die Constantin Hochkeppel für diese Szenen entworfen hat, unterscheiden sich von denen des Massenevents: Glitten sie zuvor unmerklich vom Tanz in ein Getriebensein, so sind sie nun Ausdruck von Abwehr und Schutz. Scheinbar selbstbewusstes Schreiten und Marschieren baut Distanz auf zur öffentlichen Anklage, gemeinsamer Schulterschluss signalisiert: „Zwischen uns passt kein Blatt Papier.“ Am Ende stecken sich alle wieder ihr Tüchlein in den Anzug. Sie sind rehabilitiert und hüpfen weiter. Zur nächsten Stufe ihrer Inkompetenz.
Wobei wir nicht ungerecht werden sollten: Natürlich ist diese künstlerisch herausragende Aufarbeitung der Geschehnisse rund um die Love Parade 2010 auch eine bittere Anklage. Sie ist eindringlich, aber sie bleibt sachlich. Viele der Aussagen der Verantwortlichen aus den unterschiedlichsten Zuständigkeitsbereichen wirken skandalös. Die Überforderung sämtlicher Einsatzkräfte am Tag des Unglücks wird deutlich, aber auch die mangelnde Transparenz, die vor Ort herrscht. Führungskräfte, die entscheiden könnten, sind nicht zugegen oder verfügen nicht über entscheidungsrelevante Informationen. Nicht nur die Ablaufplanung war fehlerhaft; es gab auch keine klaren Entscheidungskompetenzen für den Notfall. Aber auf einer zweiten Ebene übt die Inszenierung auch Kritik auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene. Die Love Parade war ein Prestige-Projekt für die Stadt Duisburg, und sie war nach vom Veranstalter vermutlich als demütigend empfundenen Absagen in den Vorjahren wohl auch ein dringend notwendiges Erfolgsprojekt für den Veranstalter Lopavent. Die Veranstaltung war politisch unbedingt gewollt. Es gab Bedenken seitens der für die Sicherheit zuständigen Behörden, aber es gab auch so etwas wie eine politische Hörigkeit. Schon im Vorfeld haben alle darauf geachtet, sich juristisch nicht angreifbar zu machen. Und da man vor Gericht nicht wie im Märchen alle in einen Sack stopfen kann, um mit dem Knüppel draufzuhauen, ließ sich ein wirklich Verantwortlicher für das Gesamt-Desaster nicht finden.
Das ist schwer auszuhalten, aber wahrscheinlich juristisch in Ordnung. Für die Angehörigen der Opfer und die Betroffenen, die bei der Premiere im Parkett des Moerser Schlosstheater saßen, ist das ein schwacher Trost. Die ernsthafte und empathische Beschäftigung des Theaters mit der Katastrophe aber war für sie eine Genugtuung. Erleichtert verteilten sie Blumen an die Akteure.