Übrigens …

Schade, dass sie eine Hure war im Neuss, Rheinisches Landestheater

Mord, Inzest und ein blutiges Herz

In Neuss spielten sie noch. Überall an den großen (und auch an den meisten kleinen) Häusern in NRW wurden in den letzten 36 Stunden die Vorstellungen abgesagt, aber die Landestheater hielten noch durch. Es gab ein paar Sicherheitsvorkehrungen, aber noch konnte Corona das Rheinische Landestheater Neuss nicht schrecken. Um 20.00 Uhr war Anpfiff für die letzte Premiere für viele Wochen in Nordrhein-Westfalen. Benjamin Schardt betrat das Parkett, in edlem schwarzem Anzug mit Fliege – und nieste erstmal kräftig. Das Premierenpublikum lachte. Der Schauspieler aber hatte mit einem einzigen Nieser seine Rolle an diesem Abend definiert.

Benjamin Schardt spielt den Vasques. Das ist in des Shakespeare-Zeitgenossen John Fords selten gespielter Tragödie „Schade, dass sie eine Hure war“ der Diener des Soranzo. Eine unbedeutende Figur eigentlich, aber in Neuss wird er aufgewertet zu einer wahren Shakespeare-Figur, der Züge eines Puck, Ariel oder sogar Caliban trägt. Er ist ein netter Kerl im schwarzen Anzug, der als stummer Geist Einfluss auf das Geschehen zu nehmen und anfangs vor allem der unbedingten Liebe zwischen Giovanni und Annabella zu dienen scheint. Er ist aber auch der Böse, der die Corona-Grippe ins Volk niest und die dunklen Seiten der Menschen befeuert. Nach siebzig Minuten sind alle tot, die uns John Fords etwas aus der Zeit gefallene Geschichte erzählt haben, und irgendwie scheint Vasques nicht ganz unschuldig daran.

Nelly Politt und Niklas Maienschein sind dieses Liebespaar, sind Annabella und Giovanni. Es ist rührend zu sehen, wie sie aufeinander abfahren: Bedingungslos ist ihre Liebe, rein – und erotisch. Rein für heutige Verhältnisse – im 17. Jahrhundert, als John Ford sein Drama schrieb, dürfte es eher verpönt gewesen sein, dass die zwei blitzschnell miteinander vögeln. Im 21. Jahrhundert betrachten wir das hübsche Romeo-und-Julia-Pärchen in seinen hautfarbenen Bodysuits mit Sympathie – aber so ganz wohl ist uns dabei auch nicht: Denn Giovanni und Annabelle sind Brüderchen und Schwesterchen. Wir schauen einem Inzest-Pärchen zu. „Darf ich denn nicht, was jeder Mensch darf? Lieben?“, fragt Giovanni.

Darf er. Solange keiner hinguckt. Papa Florio (Carl-Ludwig Weinknecht) guckt jedenfalls nicht so genau. Den interessiert vor allem, dass er sein Töchterlein halbwegs gewinnbringend unter die Haube kriegt. Es gibt da nämlich zwei ernsthafte, lachhafte Bewerber: Bergetto, bei Peter Waros ein eher draufgängerischer Skinhead-Typ, und Soranzo, den Josia Krug etwas weicher gibt und der Annabellas Liebe nicht fordert, sondern erbettelt. Annabella will natürlich beide nicht, soll aber Soranzo nehmen, und als sie von Giovanni schwanger ist, steuert das Drama auf sein splatterhaftes Ende zu. Geschwind wechselt die Gift-Phiole des vermeintlichen Doktors Richardetto ihren Nutzer. Man stirbt am Gift, am Kummer oder am Messer. Der sich von Annabella verraten geglaubte Giovanni reißt seiner Schwester das Herz heraus, turnt mit dem blutigen Etwas über Franziska Isensees bislang so elegante Bühne und steckt es Soranzo ins Maul. „Von wessen Hand hab‘ ich die Wunden?“, fragt Giovanni, und der heimliche Toastmaster und Conférencier Vasques antwortet: „Von meiner, Herr. Habt ihr genug?“ Auch Giovanni stirbt.

Niemals hat man gesehen, wie Mord und Inzest … feierten gemeinsam solch ein wüstets Fest“, spricht Vasques zum Abschluss. Mag sein, aber man fragt sich auch, was uns das Stück heute noch zu sagen hat. Die Inszenierung hat eine unglückliche Vorgeschichte. Wenige Tage vor dem ursprünglich geplanten Premierentermin hatte die Neusser Intendantin Caroline Stolz aufgrund künstlerischer Differenzen die Zusammenarbeit mit der Regisseurin Kathrin Mädler beendet und anschließend gemeinsam mit ihrer Dramaturgin Eva Veiders selbst die Inszenierung zu Ende geführt. Kathrin Mädler hatte in ihrer auf zwei Stunden angesetzten Inszenierung wohl die reine, unbedingte Liebe zwischen Giovanni und Annabella auf das zeitgenössische Patriarchat prallen lassen wollen. Allzu viel übrig geblieben von dieser Idee ist in den verbliebenen siebzig Minuten nicht. Florio, Richardetto und Giovannis Rivalen Soranzo und Bergetto sind unzweifelhaft patriarchalische Dumpfbolzen, aber der Gedanke, deren Charakterzüge auf möglicherweise noch vorhandene überkommene Geschlechterrollen in der heutigen Gesellschaft zu beziehen, drängt sich nicht auf. Auch die beiden weiblichen Figuren neben Annabella – Annabellas Amme, laut und prollig gespielt von Antonia Schirmeister, sowie Richardettos untreue Ehefrau, die zwischendurch mal mit Soranzo anbändelt – haben für das Verständnis des Stückes oder der Interpretationsabsicht keine Funktion. Abgesehen von dem geschwisterlichen Liebespaar gibt es – offenbar bewusst - keine differenzierten Charakterzeichnungen, wobei zwischen Soranzo und Bergetto immerhin ein marginaler Unterschied im Hinblick auf die Feinfühligkeit (nicht aber im Hinblick auf die Dummheit) zu erspüren ist. Das ist nicht weiter schlimm, weil das Ganze ja ohnehin auf ein Splatter-Ende zusteuert – aber der Abend hinterlässt auch ein wenig Ratlosigkeit.

Immerhin weiß die noch auf das Konzept von Kathrin Mädler zurückgehende Ausstattung zu überzeugen. Drei Rahmen, die bei Bedarf von Neonleuchten illuminiert werden, bilden das elegante Bühnenbild der Inszenierung. Da wird schon mal im hinteren, kleineren Rahmen über das Schicksal der in vorderen Rahmen platzierten Liebenden verhandelt. Dann wieder blickt eine Figur aus dem hinteren Rahmen nachdenklich (eher selten) oder mit lautem Geschrei auf die Handlung im vorderen Teil der Bühne. Die Kostüme der Figuren sind quietschbunt – für jede Figur steht eine andere poppige Farbe. Nur Giovanni und Annabella spielen von Beginn an im Nude Look. Man glaubt, ihr züchtiges, aber erotisches Unterwäsche-Outfit stehe für die reine Liebe und Erotik. Alle anderen machen sich mit ihrem grotesk bunten Tüll wichtig, wirken aber lächerlich: außen hui und innen pfui, mehr Schein als Sein. Doch dann folgt die Überraschung: Am Ende liegen auch sie in hautfarbenen Bodysuits auf der Bühne: tot. Wenn sie sterben oder getötet werden, ziehen sie den seidigen Tüll einfach aus. Vielleicht war ja der Nude Look von Annabella und Giovanni ein zarter Hinweis darauf, dass ihre Liebe von vornherein todgeweiht war. Das zumindest wäre eine schöne, doppeldeutige Idee.