24 Stunden mit Matthias Heße
„Helm ab“. Es ist High Noon: 12.00 Uhr mittags an diesem 8. Mai 2020. Der Rezensent holt sich einen Kaffee aus der Küche und schaltet den Live Stream des Schlosstheaters Moers an. Dort tritt Matthias Heße ans Mikrofon, macht sich locker und schüttelt ein wenig die Beine aus. „Helm ab…“ - Heße räuspert sich. Man spürt: Da hat einer Respekt vor der vor ihm liegenden Aufgabe. „Helm ab Helm ab: Wir haben verloren.“
Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes haben sich Heße und das Schlosstheater Moers etwas Besonderes einfallen lassen. 75 Mal will Heße Wolfgang Borcherts sechsseitigen Text Das ist unser Manifest sprechen, für jedes Nachkriegsjahr einmal, und jedes Mal will er sich dem Text ein wenig anders nähern. Auf 24 Stunden ist die Performance veranschlagt, die live im Internet übertragen wird. Es ist ein erschütternder, eindringlicher Text, den der zwei Jahre nach Kriegsende im Alter von 26 Jahren an den Folgen kriegsbedingter körperlicher Zerrüttung verstorbene Borchert geschrieben hat. Er handelt von der Traumatisierung der Kriegsheimkehrer, von der Wut über die erlittenen Schikanen, von den Grauen der Schlacht. Von den Müttern und ihren toten Söhnen, von den physischen und psychischen Verletzungen, die noch weit in die Nachkriegszeit wirken. Doch er handelt auch von dem im Nationalsozialismus verpönten Jazz, der jetzt die Musik der Gegenwart ist, die Musik der Amerikaner: Eine neue Zeit bricht an. Fast schmerzhaft spürt man, wie der Autor sich gegen Depression und Nihilismus stemmt: „… wir müssen in das Nichts hinein wieder ein Ja bauen. Häuser müssen wir bauen… über den Schlünden, den Trichtern und Erdlöchern und den offenen Mündern der Toten… Häuser aus Holz und Gehirn und aus Stein und Gedanken.“
Es ist der 75. Jahrestag des Kriegsendes, des Endes eines menschenverachtend agierenden Deutschlands. Bundespräsident Steinmeier wird aus diesem Anlass sagen, man könne „dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“ Genauso klingen die letzten Sätze von Borcherts Manifest. Er bezeichnet es als Manifest der Liebe. In eine zutiefst düstere Szenerie malt Borchert eine zögernde Vision vom Aufbau eines neuen Deutschlands, vom Aufbau einer neuen Liebe zu diesem Land, das in Schutt und Asche liegt.
„Helm ab“. Leise, fast zärtlich klingen die ersten Sätze. Ist es Erleichterung über das Ende des Krieges, ist es Erschöpfung? Heße tastet sich heran an seine Mammut-Aufgabe. Diese erste Runde wird nicht Heßes stärkste sein. Er bemüht sich um Differenzierung, doch weite Strecken spricht er zu schnell, mit merkwürdiger Intonation, die sich nicht im Gehirn des Zuschauers am Bildschirm festkrallt. 20 Minuten später spricht er die Eingangssätze aus dem Off, ruft sie scheinbar einem Kameraden zu, der einige Meter von ihm entfernt ist. In der dritten Runde spricht er sie gehetzt; manchmal liegt ein leiser Triumph in seiner Stimme. 75 verschiedene Sprechweisen - das kann er unmöglich durchhalten.
Für den Rezensenten wird es Zeit für die Fahrt ins 25 Minuten entfernte Moers. Das Schlosstheater ist an diesem Tag der coronasicherste Ort in Deutschland: Pro Durchgang ist nur ein Zuschauer live im Theater zugelassen; selbst Ehepaare müssen die Vorstellung getrennt besuchen. Es herrscht Maskenpflicht, die Hände sind zu desinfizieren, und vor jeder neuen Runde desinfiziert der Schauspieler höchstpersönlich den einzigen Stuhl, den es für die Zeugen dieses ungewöhnlichen Projektes gibt. Um 14.50 Uhr bin ich live dabei. Für den Schauspieler ist es Runde 9. Er beginnt sehr schnell, überfordert mich zunächst fast ein wenig, aber natürlich entwickelt die Live-Begegnung eine größere Intensität als das Zuschauen zu Hause am Bildschirm. Die Stelle mit den weinenden, aber sich nicht abwendenden Müttern betont Heße diesmal besonders. Mehr als zuvor am Bildschirm fällt mir die permanente Wiederholung des Begriffs „lila“ auf: Alles ist lila, der Stahl der kaputten Kanonen, die frierenden Kinder, die magere Milch, der Himmel, die Haut der Mädchen, ja: sogar das Geschrei, das Gestöhn‘, die Erlösung: die Welt. Einschließlich des Karussells aus der Jazz-Sause, denn auch die Vergnügungen bedeuten noch lange keine Erlösung. Alles hat die Farbe von Frost und Krankheit und Tod.
Um 20.00 h (längst sitze ich wieder im heimischen Wohnzimmer) erklingt das „Helm ab“ im Befehlston. Draußen wird es kühl; auf dem Stuhl, den Heße mal mehr, mal weniger nutzt, hängt jetzt eine Jacke. „Wer schreibt uns jetzt eine neue Harmonielehre?“, fragt der Schauspieler wieder einmal: „Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz.“ Die Kriegserfahrungen, die Traumatisierungen, die gebrochenen Herzen, mit denen man ab jetzt nur noch auf Deutschland schauen kann, haben ihre Spuren hinterlassen. Am Nachmittag hatte Heße diese Passage einmal in einer Art Lehrerton gesprochen, jetzt wirkt es, als spräche er den ihm gegenüber sitzenden Zuschauer unmittelbar an. Manchmal flüstert er, manchmal - für kurze Intermezzi nur - schreit er. Einmal spricht er die Sätze über die Mütter leichthin wie ein Student aus unseren Tagen. Um 21.00 Uhr öffnet er das Fenster - viermal in diesen 24 Stunden klettert er auf die Fensterbank und spricht nach draußen, für ein zufälliges oder verabredetes Publikum im Außenbereich. Danach gibt es eine Pause. Kakophonische Heavy Metal Musik erklingt, und am Bildschirm leuchtet die Schrift: „zero tolerance for silence“. Empört Euch, will uns das Schlosstheater sagen. Nie wieder sollen wir bei kriegerischen Konflikten, bei Genoziden oder Rassismus wegschauen: Macht die Klappe auf, und wenn ihr 24 Stunden durchredet.
22.00 Uhr. Heße wird immer besser. Mal spricht er eindringlich, mal beschwichtigend: „Unser Manifest ist die Liebe.“ Was manchmal Wutrede ist, wird in anderen Durchgängen zum Appell an die Vernunft. Einmal kommt das „Helm ab“ wie das Starter-Signal beim 100-m-Lauf. Heße aber absolviert einen Marathon. Die Scheinwerfer laufen heiß und benötigen eine Pause, Heße aber ist keine Ermüdung anzumerken. Um 3.00 nachts rollt Zimmermanns Audi wieder vom Hof: Ich habe noch eine zweite Verabredung mit dem Helden dieses Tages. Der tote Punkt bei diesem Marathon, so hatte mein Kalkül gelautet, müsste mitten in der Nacht eintreten, wenn es dunkel ist, wenn nicht mehr alle Slots verkauft sind und Heße manche Strecke allein zurücklegen muss. Doch Verschleißerscheinungen? Niente. Um 3.40 Uhr empfängt mich der Schauspieler hellwach. Es ist als hätte er meine Gefühlsregungen auch am heimischen Laptop mitempfunden: Er legt eine Performance hin, die sich hundertprozentig am Geschmack des Rezensenten orientiert. Hatte der Text bei meinem Besuch vor 13 Stunden wuchtig, schwierig und anspruchsvoll gewirkt, spricht Heße nun nachdenklich, suchend. Er wechselt von Blickkontakt zur sinnierenden Innenschau und zurück. Der Text wirkt nun einfühlsamer und der Erzähler weniger verletzt als traurig. Der Kriegsheimkehrer scheint manche seiner Erlebnisse schon verarbeitet zu haben. Er zieht nun Schlüsse aus dem Erlebten. Aus Wut ist Nachdenklichkeit geworden.
Gegen 11.40 Uhr öffnet Heße noch einmal das Fenster. Ich habe inzwischen ein paar Stunden geschlafen; er spricht nun die 75. Runde, die vierte Fensterrunde. Der Krieg ist verloren, der Marathon gewonnen. Der Betrachter war inzwischen in die gleiche Stimmung verfallen wie beim nächtlichen Schauen des Ironman Triathlon aus Hawaii. Die Veränderungen wirken marginal, aber die Tempowechsel, die Veränderungen der Gesichter der Athleten irgendwie spannend. Warum, frage ich mich plötzlich, gehe ich eigentlich lieber ins Theater als ins Kino? Ein perfekter Film bleibt ein perfekter Film, auch wenn man ihn zum dritten oder zehnten Mal sieht. Theater ist jedes Mal anders. Wie eine Fußballmannschaft hat ein Theater-Ensemble, hat ein Schauspieler mal gute, mal schlechte Tage. Die Energie, die Konzentration des Schauspielers überträgt sich auf den Zuschauenden - und die der Zuschauer überträgt sich auf die Schauspieler. Wie beim Fußball kann es Momente geben, in denen diese Energie sich verändert - zum Positiven oder zum Negativen. Das ist Leben - Film ist Fiction. Matthias Heße spielt an diesem Tag mit dem Live-Erlebnis Theater. Er hat sich vorgenommen, 75mal anders zu spielen. Nie tut er das exaltiert, nie dekonstruierend, sondern immer voller Respekt für den Text. Dass das funktioniert, ist eines der vielen Wunder des Theaters.