Prinzessinnen in Alt-Oberhausen
Seit dem 13. März 2020 sind alle Bühnen an den Stadt- und Landestheatern geschlossen, seit dem 15. März auch alle freien und privaten Theater. Mit mal mehr, mal weniger Kreativität wird an alternativen Formaten gebastelt. Die Lesungen und Chats aus den Wohnzimmern der Schauspielerinnen und Schauspieler breiten sich mittlerweile inflationär in den sozialen Netzwerken aus und verlieren langsam ihren Reiz. Das Theater Oberhausen aber gewinnt das Rennen um die erste Neuproduktion, in der echte Schauspieler echten Zuschauern begegnen.
Für den 24. April 2020 war im Saal 2 die Premiere der Prinzessinnendramen von Elfriede Jelinek angekündigt. Drei der kurzen Dramolette, die Jelinek unter dem Titel Der Tod und das Mädchen zusammenfasst, sollten an einem Abend konsekutiv aufgeführt werden. Nach der ersten Probenwoche machte der Corona-Shutdown alle Pläne zunichte. Auch in Oberhausen hätte man die handlungsarmen, aber sprachmächtigen Dramen aus den Home Offices der Schauspieler streamen können. Doch das Theater hatte eine genialere Idee: Es verlegte die Aufführungen ins Freie und inszenierte sie als Audiowalks, die stets an drei aufeinanderfolgenden Tagen gespielt werden: erst Schneewittchen, dann Dornröschen, dann Rosamunde. Alle zehn Minuten werden zwei Zuschauer mit eigenem Smartphone und Kopfhörern auf eine 30- bis 45minütige Erkundungsreise durch die Oberhausener Altstadt geschickt. Wie zufällig trifft man auf die Schauspieler - meist nur auf eine(n), auch wenn im Text zwei Personen auftreten. Deren Stimmen auf dem Smartphone lassen sich oft nicht gut unterscheiden, was Verständnis erschwert. Doch der Stadtraum liefert Bilder, die dem Text neue, mal rätselhafte, mal erklärende und mal zufällige Dimensionen hinzufügen.
Schneewittchen geht „durch die Krümmungen und Biegungen des Waldes schon seit Ewigkeiten“. Es sucht die Zwerge und trifft den Jäger. Der dunkle Wald ist eine Fußgänger-Passage, ein unansehnlicher Tunnel. „Refugees welcome“ heißt es in einem Schaufenster - vielleicht ist Schneewittchen ja richtig an diesem unwirtlichen Ort. Dass die spirituelle, sich dem Naturschutz, aber auch der Legalisierung von Drogen verschreibende Kleinstpartei „Die Violetten“ in der Passage ihr Oberhausener Büro hat, setzt eine witzige Assoziationskette in Gang - und lenkt vom Knopf im Ohr ab, der das Hirn unerbittlich mit Jelinek-Text beschallt. Bald erscheint Daniel Rothaug. Er ist der Jäger, ergo der Tod. Sein herausfordernder Blick verunsichert. Ich bin allein mit ihm; im Halbdunkel der Passage wäre ein Anschlag auf Leib und Leben leicht durchzuführen. Als ich ein Foto mache, um mich für diesen Text an die schneewittchenkompatiblen Schaufensterauslagen erinnern zu können, zückt auch Rothaug provozierend sein Smartphone. Der Jäger stellt eine Bedrohung dar, die in der Passage körperlich spürbar ist. Bei Jelinek ist er das männliche Prinzip, das das Weibliche unterdrückt und an einer eigenständigen Entwicklung hindert.
Das Mädchen, jetzt auf der Suche nach der Wahrheit, die sie beim Jäger (beim Mann!) zu finden hofft, war einst die Schönste im Land. Doch: „Ihre Schönheit nützt Ihnen in unseren Kreisen nicht viel“, ätzt der Jäger-Tod. Man denkt an Autorin Elfriede, die, wenn man Fotos aus ihrer Jugend betrachtet, einst ein umwerfend schönes Mädchen war und bald darauf eine unglückliche Frau. Die ultimative Wahrheit sei nun der Tod, meint der Jäger - und gibt das Mädchen dennoch frei. Aufgrund seiner Schönheit? Jelinek arbeitet mit männlichen und weiblichen Klischees und stellt sie geschickt in Frage.
„Ist es möglicherweise die Irre, in die Sie gehen?“, heißt es im Text. Das wird für mich zum Menetekel. Ich habe bei der Einweisung wohl nicht richtig zugehört und finde den Ort der zweiten Spielstätte nicht. Das bringt den Oberhausenern das ganze Programm durcheinander, aber sie lösen das Problem souverän. Irgendwann gelange ich planmäßig in den Hinterhof des Restaurant-Theaters Gdanska und treffe auf Agnes Lampkin, die sich in einem noch für die ursprüngliche Location im Theater entworfenen Bühnenbild bewegt und in einen Apfel beißt. Sie schaut in den Spiegel - und in meine Augen. Ihr Lächeln wirkt falsch und verwandelt sich in Zeitlupe in eine hässliche Fratze. Der Konkurrenzneid zwischen Schneewittchen und Stiefmutter kommt zur Sprache: Schönheit ist Macht, zumindest im Weltbild der beiden Frauen. Was bei Jelinek ein wenig gestelzt formuliert klingt, nennt man auch Zickenalarm. Das schöne Schneewittchen gewinnt dabei keine Sympathiepunkte.
Oberhausen ist nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird? Irrtum! Vom vergifteten Apfelparadies geht es ins Perückenstudio - Verzeihung, in Zeiten von Corona natürlich nur vors Perückenstudio. Lise Wolle sitzt im Schaufenster. In elegantes, extravagantes Blau gekleidet, bewegt sie sich nicht ohne Eitelkeit, probiert die eine oder andere Zweit- oder Drittfrisur und philosophiert über das Sein oder Nichtsein nach einem Apfelbombenanschlag. Ist die Schönheit, die sich im Falle Schneewittchens zwangsläufig selbst genügen musste, der Schlüssel zum Sieg über die sich in den Konkurrenzkampf begebende Stiefmutter? Aus ihrem Text - wie immer nicht live gesprochen, sondern nur aus dem Smartphone hörbar - schlägt Lise Wolle an diesem Abend die humorvollsten Funken.
Wenige Meter weiter wird der blaue gläserne Stadtpavillon am Alten Markt zum perfekten Schneewittchensarg. Schneewittchen, so argumentiert der Programmzettel, verkörpere bürgerliche Tugenden wie Fleiß und Gutherzigkeit. Bürgerliche Tugenden haben oft etwas Spießiges. Nirgendwo wird das so deutlich wie hier im Pavillon, in dem Susanne Burkhard von Bügeleisen, Staubsauger und ollem Sofa umgeben ist. Auf dem Pulli trägt sie den Kussmund, der uns zwei Tage später bei Rosamunde begleiten wird: Es ist erneut die Schönheit, die das Mädchen vor dem Tode bewahren wird. In einer Phantasie von einem Gangbang mit den Zwergen klingen erstmals auch explizite sexuelle Motive an. Schneewittchen wird nicht wie bei Jelinek vom Jäger erschossen, sondern es zieht sich eine Plastiktüte über den Kopf. Oder doch nicht? Haben wir aus unseren Kopfhörern nicht einen Schuss gehört? Flogen da nicht erschrocken ein paar Vögel davon? - Egal. Die Schönheit hat den Weg zum Ziel nicht gefunden. Sie hat die Zwerge und die Berge verfehlt und wohl auch die Wahrheit nicht gefunden. Doch das ewige Schneewittchen steht am Ende wieder auf.
Dornröschen ist der humorvollste der drei Texte. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wie das erwachende Dornröschen dem Prinzen gegenübersteht und seine (erneute) Lebensberechtigung nur auf ihn, den Mann, zurückführt. Das patriarchalische Motiv des Märchens wird in Oberhausen wunderbar ironisiert: Daniel Rothaug steht mit einem tollen Blumenstrauß mitten im (dornigen?) Gebüsch neben einer Bahnunterführung. Drei Mädels, die zufällig an uns konzentriert in die Kopfhörer lauschenden Zuschauern vorbeigehen und Rothaug in den Sträuchern entdecken, haben ihre Freude. - In der zweiten Station setzt sich das patriarchalische Motiv im Jelinek-Text fort: Der Prinz äußert sein Wohlgefallen ob Dornröschens Schönheit, verweist aber gleichzeitig selbstbewusst, nein: fast schon bedrohlich auf seine Macht: „Wer sich gegen mich stellt, verliert sich selbst … Wie gut, dass Sie gleich eingesehen haben, dass Sie Ihre Existenz allein mir verdanken.“ Agnes Lampkin kommuniziert mit dem Prinzen per Video Call und setzt tatsächlich tänzerischen, lockenden Bewegungen ihre Weiblichkeit ein. Auf dem Frauenparkplatz: Frailty, thy name is woman. - Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass Dornröschen hundert Jahre lang geschlafen hat und trotzdem noch schön ist wie am ersten Tag? Nach dem erlösenden Kuss „gehts los mit der Alterung! In hundert Jahren gibts nix mehr küssen, da gibts Liftings satt“, droht der Prinz. Der Text an der dritten Station handelt von der sexuellen Vereinigung des Prinzen und der Prinzessin - nicht ohne einen brutalen Machtkampf um die Herrschaft in dieser alten Beziehungsgeschichte. Prinz und Prinzessin werden jetzt von zwei malerisch auf einer Wiese platzierten Frauen (Susanne Burkard und Lise Wolle) dargestellt, die zunächst harmonisch und synchron miteinander agieren, sich später aber misstrauisch beäugen. Immerhin: Prinz und Prinzessin sind zwei Frauen. Vielleicht gibt Dornröschens in dieser Szene zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein Hoffnung auf ein Ende des Patriarchats. Die Frauenzeitschriften, in denen beide Darstellerinnen blättern, sprechen allerdings eine andere Sprache.
Dornröschen ist endlich mal ein Jelinek-Text, der auch beim Lesen Vergnügen bereitet.
Rosamunde dagegen wird zum sperrigsten, hermetischsten Teil des Oberhausener Triptychons. Der Text lehnt sich an ein „großes romantisches Schauspiel mit Chören, Musikbegleitung und Tänzen“ von Helmina von Chézy (1783 bis 1856) mit Musik von Franz Schubert. Diesmal wandern wir vom Eingang des soziokulturellen Zentrums Altenberg, in dem sich auch das LWL-Museum der Alten Zinkfabrik befindet, über die im Innenhof ausgestellte Röhrenskulptur von Dominique Thevenin bis zum Museumsgleis im Hauptbahnhof. Erneut geht es um männliche Macht und die Neigung der Frauen zu Unterwerfung oder Widerstand. Bei von Chézy will Fulvio die Prinzessin von Zypern nach dem Tod ihrer Eltern an der Übernahme der Macht hindern. Jelinek löst sich weit von der 200 Jahre alten Vorlage. Wir treffen zunächst Susanne Burkhard, schreitend, rennend, einen Brief schreibend, in dem sie verängstigt um Verzeihung bittet. Für was? Im Grunde für ihr Dasein. Daniel Rothaug ist der arrogante Vertreter männlicher Macht, ein schnöseliger Oberklasse-Typ, der an Thevenins Röhrenskulptur Golf spielt. Statt Schubert hören wir Wandas Austropop-Song „Bologna“, in dem, wie es scheint, die Frau die Initiative beim Sex übernommen hat. Das Motiv des Schlagers findet sich in Jelineks Text wieder, der ein Aneinandervorbei, ein Umeinanderherum-Scharwenzeln zwischen Liebe und Anziehung, zwischen Ablehnung und Hass beschreibt - und zwar auf beiden Seiten. Die Situation im Stadtraum ist diesmal dem Verständnis nicht dienlich, aber wir spüren, dass Jelinek in diesen Text ihre eigene Zerrissenheit mit hineingeschrieben hat. Auch am Bahnsteig, wo sich Agnes Lampkin und Lise Wolle von ferne nähern, auf den Geleisen Fußball spielen und ihren Hass reflektieren, wollen die Bilder der Stadt nicht recht zum Text passen. Doch der Kampf um resp. gegen das Patriarchat und die feministische Auflehnung werden auch an diesem Abend spürbar. Wir, die Besucher, sind ohnehin glücklich, endlich wieder so etwas Ähnliches wie Live Schauspiel erlebt zu haben.