Die Angst, der Tod und die Freiheit
Mein siebenjähriger, 500 Kilometer entfernt wohnender Enkel hat schon verstanden, wie das geht: „Wir haben keine Angst vor Corona“, krähte er durchs Telefon, „Ihr könnt uns ruhig mal besuchen kommen.“ - Mit solch charmanter Werbung macht man sich natürlich beliebt bei den Großeltern, aber er und seine Familie (inkl. Großeltern) gehören tatsächlich zu den Menschen, die angesichts der Bedrohung durch die Pandemie nicht gleich in Hysterie verfallen. Oder verdrängen wir da nur etwas?
Die in knallrote Klamotten gesteckten Schauspieler in Johan Simons‘ Inszenierung von Elias Canettis selten gespieltem Stück Die Befristeten formieren sich in den Seitentüren des Parketts. „Wir sind dankbar!“, skandieren sie im Chor. „Wir haben keine Angst. Wir wissen, was uns bevorsteht.“ Denn sie kennen den „Augenblick“: So lautet die euphemistische Bezeichnung für den Eintritt des Todes. In Canettis Zukunfts-Gesellschaft nennt man den Tod nicht beim Namen, und der eigene Name besteht nur aus einer Zahl. Sie bezeichnet das Lebensalter, das die Person erreichen wird. Es ist vermerkt auf einem Zettel, der in einer Kapsel eingeschlossen ist, die die Menschen um den Hals tragen. Nur der Kapselan darf sie öffnen, um den Hinterbliebenen zu bestätigen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist, der Tod also im richtigen Moment eingetreten ist. Grauenvoll erscheint die Erinnerung an frühere Zeiten, als man sein Todesdatum noch nicht kannte und man kaum vor die Tür gehen konnte, ohne um sein Leben zu fürchten. In der neuen Gesellschaft lebt man in absoluter Sicherheit. Und somit glücklich. Oder verdrängen die Menschen da etwas?
Der Kapselan hat keine roten Kleider, aber blutrote Hände: Er ist der zwar nicht autoritär auftretende, aber mächtige Dompteur dieser Combo, der die Gesellschaft in Abhängigkeit und Unfreiheit hält. Zukunftspläne, Zukunftshoffnungen sind in einer solchen Gesellschaft obsolet. Ein Junge fläzt sich gelangweilt auf dem Boden. Jeglicher Versuch, ihn zu einer Aktivität zu motivieren, schlägt fehl. Er schwänzt die Schule. „Ich darf alles“, entgegnet er: „Ich heiße Sieben.“ - Wie viele Gutenacht-Küsse wird der andere Junge noch von seiner Mutter erhalten, die auf den Namen Zweiunddreißig hört? Die Mutter schluckt spürbar, als sie ihren Sohn mit der Aussicht auf mehr als hundert verbleibende Küsse tröstet. Der junge Mann, der Achtundachtzig heißt, ist unbeliebt. Ihm wird Arroganz unterstellt, denn er wird ja alle überleben. Aber es wird auch gefragt, ob er in der Lage sein kann, andere Menschen zu lieben. Muss er sich nicht gegen die Liebe wehren, wenn er weiß, dass jedes geliebte Wesen vor ihm sterben wird?
„Es ist immer nichts, es war immer nichts, und es wird immer nichts sein“, sagt die Frau, die keine Glückwünsche annehmen möchte: „Es ist mein letzter Geburtstag.“ Sogar Selbstmord gibt es nicht mehr, ebenso wenig Mord und Totschlag. Ist das ein Fortschritt? „Heute ist ein Mörder nur ein ganz gewöhnlicher Kapseldieb“, beschwert sich Gina Haller maulend. Die aktuelle Diskussion über den selbstbestimmten Tod kam für das 1952 entstandene Stück zu spät, doch drängt sich der Gedanke an dieses Thema auf. Der Gesetzgeber hätte ein Problem weniger, der Kranke und Lebensmüde keine Option. Die Inszenierung untersucht nicht nur unsere Ängste im Umgang mit Leben und Tod, sondern auch unsere Bereitschaft, Freiheit gegen Sicherheit einzutauschen. Vielleicht gibt es einen Weg, sich dem merkwürdigen Regime zu entziehen: Auch die „Schwester des Freundes“ Mercy Dorkas Otieno ist nicht in das uniforme Rot gekleidet. Sie ist angeblich im Alter von 12 Jahren gestorben. Vielleicht ist sie aber auch einfach nur verschwunden und aus der sektenartigen Gesellschaft ausgeschieden. Kann das ein Weg sein in die Unabhängigkeit, in die Freiheit? Man möchte das glauben, aber irgendwie wirkt auch Dorkas Otieno die ganze Zeit über wie eine Außenseiterin, eine Eremitin ohne Kontakt zu anderen Lebewesen.
Immer wieder spielt die Inszenierung auf den Ausnahmezustand an, in den die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft, das Theater und unser Zusammenleben versetzt hat. Misstrauen beherrscht diese Gesellschaft. Panikartig weicht Marius Huth zurück, als einer seiner Schauspieler-Kollegen an der geöffneten Parkett-Tür den Sicherheitsabstand zu verletzen droht. Jing Xiang, die den Kapselan spielt, hantiert mit rot-weißen Abstandshaltern, die etwas von Warn-Baken im Straßenverkehr haben - da sind uns die Bananenblätter lieber, mit denen der Botanische Garten im japanischen Ofuna ironisch die Abstandsregeln erläutert. Aber der Kapselan weiß schon, warum er sein Volk auf Abstand hält. Denn die Kapseln sind leer. Ein Mann mit dem Namen Fünfzig (Stefan Hunstein) reflektiert, was alle anderen zu akzeptieren oder zu verdrängen versuchen. Er hinterfragt, er will sich ein Jahr stehlen. Er überlebt seinen „Augenblick“ - auf drei Theatersesseln, die aus dem Parkett auf die große Bühne versetzt wurden. Theater kann Berge versetzen. Kann Systeme aushebeln. Kann triumphieren, selbst wenn man den Menschen ausschaltet oder maximal auf Abstand hält: Das durften wir schon in der langen faszinierenden Ouvertüre dieses Abends erleben. Da hatte Simons zu sakraler Musik einen Tanz der Bühnentechnik und des Lichts inszeniert, der von fern an Arbeiten von Heiner Goebbels erinnerte: Podeste hatten sich gehoben und gesenkt, die Lichttechnik geometrische Formen in den Saal gezaubert, ein Ventilator mit einer riesigen Nebelmaschine eine geheimnisvolle Atmosphäre geschaffen - und aus dem Schnürboden hatten sich kleine hölzerne Kästchen gehoben und gesenkt: die Behälter der ominösen, die Lebensdauer bestimmenden Kapseln. Jetzt aber sitzt der Mann, der die Kapseldiktatur als Fake entlarvt, auf drei Theatersesseln und versucht, den ängstlich sich an die alte Philosophie klammernden Freund (Elsie de Brauw) zu überzeugen, dass nicht Naturgesetze das bisherige Leben und Sterben bestimmt haben, sondern Amtsvorschriften.
Vertrauen in den Staat und die Naturgesetze ist gut, Kontrolle und ein gesundes Misstrauen sind besser. Der der Lüge überführte Kapselan gibt sein Denken nicht auf: „Ich überlasse Sie Ihrer Angst“, sagt er zu Fünfzig. Für die Gesellschaft ist die Entmachtung des Kapselans eine Befreiung. Ungläubig findet sie sich zusammen zu rituellem Tanz. Die rote Kleidung, die wie eine Uniform gewirkt hatte, haben die Schauspieler abgelegt. Individualität ist wieder möglich. Doch Illusionen und Fake News gibt es immer noch: Es gebe kein Sterben mehr; alle lebten, solange sie wollen, glauben sie Menschen nun. Macht das Nichtwissen über den Todeszeitpunkt glücklicher? Canettis Gedankenexperiment lässt das offen. Zumindest ist ein ordentlicher Mord wieder möglich: Gina Haller bekommt es sogleich zu spüren. „Es ist gleichgültig, wie man heißt. Wenn man nur da ist und miteinander spricht…“, sagt de Brauw erleichtert, und wir denken an die Kontaktsperren, unter denen vor allem Alte und Kranke in den letzten Monaten so gelitten haben.
Zurück zu meinem Enkel respektive ins Private. Enkel, Tochter und Großeltern sind recht glücklich mit ihrem Verdrängungsmechanismus. Nicht zu wissen, ob uns die Seuche ereilt oder wann wir sterben müssen, erscheint uns als Gnade. Eine Freundin traut sich seit Beginn der Corona-Krise kaum aus dem Haus. Keine Abstandsregel kann ihr umfassend genug sein, obwohl es in der vergangenen Woche in ihrer Heimatstadt unter 200.000 Einwohnern exakt eine Neu-Infektion gegeben hat. Ob sie wohl glücklicher wäre in einer Welt mit Kapselan und festgelegtem Todesdatum?